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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Artilleriestellung zum Artillerieregiment. Ein bestätigter und – was ist jetzt das? Und ein wahrscheinlicher Toter. Nur so ergibt das Sinn. Schließlich haben wir hochexplosive 105 -mm-Geschosse eingesetzt, mit zeitgesteuertem Luftzünder, und Splittergeschosse mit Flechets [pfeilförmige Projektile], o Mann, das ist eine tödliche Kombination, und im Übrigen weiß jeder, dass die hinterlistigen Dreckskerle ihre Toten verschwinden lassen, um unsere Statistiken zu verfälschen. Wir selbst machen das nur, weil wir unsere Toten begraben wollen.
    Bis das alles bei der Einsatzbesprechung in Saigon ankommt, haben wir den Krieg gewonnen.
    Stellen Sie sich die Szene im antiken Griechenland vor: Gerade kommt Nachricht aus dem griechischen Hauptquartier, dass Leonidas und dreihundert Spartaner bei der Verteidigung der Thermopylen gefallen sind.
    »Guter Zeus! Sie sind alle tot? Wie hoch waren die Verluste der Gegenseite?
    Was soll das heißen, Sie meinen doch nicht etwa, dass das wichtig ist?
    Wenn Sie glauben, ich überbringe Themistokles diese Nachricht, ohne etwas vorzuweisen zu haben, dann täuschen Sie sich aber gewaltig. Und jetzt will ich, dass die ganze Sache entweder schnell vertuscht wird, oder Sie tragen Ihren Arsch noch mal hoch zum Pass und kommen mit dem Bericht von einer Zahl getöteter Feinde zurück, mit der wir uns in Athen sehen lassen können. Ob Sie auch persische Hühner mitzählen, ist mir dabei völlig egal …«
    Warum stehen da anständige Leute nicht auf und beschweren sich lautstark? Weil es sich nicht auszahlt. Sie stecken in einem System, in dem sie überleben wollen. Nehmen Sie einmal an, Sie sind ein anständiger Soldat wie ich. Sie und ich, wir sind anständig, oder? Sie wissen, da gibt es diesen Haufen Dreckskerle, die anderen, die alles tun, um voranzukommen, und die alles andere als anständig sind. Wenn Sie naiv einen wahrscheinlichen Getöteten melden, obwohl Sie wissen, dass die anderen Hurensöhne unter ähnlichen Umständen mindestens fünf Getötete melden würden, nun, wer sitzt dann am Ende am Drücker? Ein Haufen verlogener Dreckskerle. Da ist es Ihre moralische Pflicht mitzuhalten.
    Als Norman Schwarzkopf den Reportern bei der Operation »Desert Storm« erklärte, die Schätzungen darüber, wie viele Iraker getötet worden sind, seien bedeutungslos, reckte ich die Faust in die Luft und schrie vor Freude. Das Verlangen nach Zahlen und Statistiken kommt von Leuten, die nichts zu tun haben, die nicht wissen, worum es eigentlich geht, und frustriert sind, weil sie außen vor sind bei etwas, das, aus sicherer Distanz, so aussieht, als wäre es aufregend. Die Presseleute bedrängen die Regierungssprecher ständig mit hirnverbrannten Fragen, zum Beispiel dieser: »Wie viel Prozent der Republikanischen Garde sind aufgerieben?« Nehmen wir an, ich habe Ihnen gerade gesagt, dass die Hälfte meines Zuges aufgerieben worden ist, aber nicht, dass die andere Hälfte jetzt doppelt so hart kämpfen wird, weil sie so verdammt wütend ist. Welche Bedeutung haben statistische Aussagen wie »zu fünfzig Prozent aufgerieben« dann? Die einzige bedeutende Aussage im Krieg ist, ob die Gegenseite das Handtuch geworfen hat.
    Der Opferquoten-Unsinn ging in Vietnam jedoch aus verschiedenen Gründen immer weiter. Der wichtigste davon war vermutlich, dass der Präsident und eine Gruppe seiner Berater darauf bestanden, die Dinge von Washington aus zu dirigieren, ohne dass es eine klare militärische Zielsetzung gegeben hätte. Also brauchten sie etwas anderes, worauf sie ihre Entscheidungen gründen konnten, weil, wenn sie keine fällten, warum zum Teufel hatten sie dann die Verantwortung? Der zweite lag im militärischen Karrieredenken, sowohl beim Eintreten in den statistischen Wettbewerb als auch dabei, nicht auf den Unverstand des Ganzen hinzuweisen. Und das zog sich bis ganz nach oben durch, und am Ende waren die Tötungsstatistiken so weit vom Empfinden und Erleben des einfachen Soldaten entfernt, dass das Lügen für ihn ein nichtiger, bedeutungsloser Akt wurde.
    Wenn das System nach Zielen zu suchen beginnt, die mit den individuellen Werten nichts mehr zu tun haben, nimmt das Individuum, das für gewöhnlich im System gefangen ist, Schaden oder überlebt, indem es lügt. Wir alle wollen überleben, und so lügen die Leute ständig. Menschen in diktatorischen Systemen lernen zu lügen, es wird zum normalen Bestandteil ihres Lebens. Menschen in dysfunktionalen Familien, zum Beispiel mit Eltern, die

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