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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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mich anders hätte verhalten können, genauso wenig wie sie. Selbst so, wie ich heute bin, würde ich nicht anders handeln. Aber ich würde Meg nicht mehr außen vor lassen. [55]
    Damals befand ich mich zum ersten Mal in dem moralischen Dilemma, wem ich treu sein wollte, sollte ich meiner Pflicht oder meinem Herzen folgen, etwas so Abstraktem wie einer Einheit und ihren Idealen oder meinem Treuegefühl einem Menschen gegenüber. In den nachfolgenden Monaten sollte ich noch oft mit diesem Konflikt konfrontiert werden: Da waren auf der einen Seite die »Einheit« und mein »Land« und auf der anderen die Kameraden, die direkt um mich waren und die getötet oder verstümmelt wurden, indem sie ihre Pflicht taten. Wie oft befahl mir jemand, den ich für ein völliges Arschloch hielt, etwas zu tun, das ich für dumm und sogar für gefährlich hielt, aber ich fluchte nur laut über die Dummheit des entsprechenden Vorgesetzten, zog los und tat, was mir befohlen worden war, obwohl ich wusste, dass ein fürchterlicher Preis dafür zu bezahlen sein würde. In diesen Fällen blieb ich dem größeren Ganzen treu, der abstrakten Befehlsstruktur.
    Ich muss allerdings hinzufügen, dass es nicht immer nur eine Frage von Treue nach oben versus Treue nach unten war. Die Treue nach unten schloss nicht nur die Leute direkt um mich herum ein, meinen Zug, sondern auch die kleinste Einheit von allen, mich selbst. Da war stets die alles durchdringende Angst davor, was passieren würde, wenn ich einem direkten Befehl nicht gehorchte. Angenehm würde das sicher nicht werden und vielleicht sogar, wie eine lange Gefängnisstrafe, sehr unangenehm. Diese Angst sorgte für eine sehr leichte Rationalisierung des Befolgens dummer Befehle und war auch eine gängige Verteidigung der bei den Nürnberger Prozessen angeklagten Nazis, wenn sie damit auch nicht durchkamen. Jeder Berufssoldat sollte über die Nürnberger Prozesse Bescheid wissen. Was man über Nürnberg denkt, wird einen großen Einfluss auf das haben, was man über das Befolgen von Befehlen denkt. [56]
    In manchen Systemen ist es leichter als in anderen, Befehlen nicht zu gehorchen. Das ändert nichts an der moralischen Frage, aber es ändert das Leid und den zu zahlenden Preis. Leid und Preis sind bedeutende Faktoren beim Fällen moralischer Entscheidungen. Wir stimmen darin überein, dass es falsch ist zu töten, dennoch würden die meisten Menschen zustimmen, dass es gerechtfertigt ist, jemanden zu töten, der andere foltert. Der Unterschied liegt im Leid der Person, die gefoltert wird.
    In Ländern wie dem Irak des Baath-Regimes oder Nazi-Deutschland waren die Folgen von Nichtgehorsam extrem. Wer sich widersetzte, wurde zu Tode gefoltert, an Fleischerhaken aufgehängt, stranguliert, und es traf nicht immer nur den Einzelnen, sondern oft auch ganz Familien. Ich wiederhole noch einmal: Identische moralische Entscheidungen können unter bestimmten Umständen weit größeren persönlichen Mut erfordern als unter anderen, und die, die dennoch das Richtige tun, sind fraglos sehr mutig. Eine Person im Militärdienst einer westlichen Demokratie verfügt über eine beträchtliche Freiheit, was das Nichtbefolgen von Befehlen betrifft. Ganz gewiss trifft das auf das amerikanische Militär zu. Zivilisten wären überrascht zu sehen, wie oft man, besonders im Gefecht, die Dinge drehen kann. Zum Beispiel lässt sich einfach ein Fehler machen. Man kann die Funkverbindung verlieren. Du kannst dem Idioten sogar sagen, dass du ihn für ein Arschloch hältst und seinem dummen Befehl nicht gehorchen wirst, sondern versetzt werden willst. Es gibt nur wenige Offiziere, die die Frage, ob sie dumme Arschlöcher sind oder nicht, vor einem Kriegsgericht verhandelt sehen wollen.
    Ich bin jedoch selbst unter Umständen, in denen ich sehr wahrscheinlich einer Bestrafung hätte entgehen können, »dummen« Befehlen gefolgt, und das sogar in Situationen, in denen jede mögliche Bestrafung im Vergleich zu dem, was ich tun musste, aus heutiger Sicht trivial wirkt. Ganz sicher war das Todesrisiko durch das Urteil eines Kriegsgerichts 1968 verglichen mit dem Risiko, das die Erstürmung unseres Hügels bedeutete, praktisch nicht existent. Warum also folgte ich offenkundig dummen Befehlen zum Nachteil von mir und meinen Männern? Wem oder was schenkte ich da meine Treue? Offenbar nicht meinen Männern. Was sie so teuer bezahlen mussten wie ich selbst. Und auch mir nicht, denn die guten Lieutenants wiesen im Gefecht noch

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