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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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erschöpfter Junge, der einen schweren Mörserfuß mit sich schleppte, verlor den Halt und stürzte über den Rand eines Felsens. Er riss noch zwei andere mit sich und gab keinen Laut mehr von sich. Das rund fünfzig Kilo schwere Gerät, das er mit sich trug, wirkte wie eine schreckliche, schwere Bowlingkugel und riss eine Reihe Haken ab, die direkt unter ihm in schwierige Haltepunkte getrieben worden waren.
    Ich selbst stand mit dem Rücken zum Felsen auf einem schmalen Vorsprung und sah hinaus auf das, was eine tiefe Schlucht zu sein schien, erkannte durch den im strömenden Regen wabernden Nebel aber nichts. Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Hilflosigkeit, als ich den Bericht des Sanitäters hörte. Einer der Abgestürzten hatte große Schmerzen, antwortete nicht auf Fragen, war durch eine Gehirnerschütterung verwirrt und desorientiert. Er hatte sich womöglich den Rücken gebrochen. Einer hatte ein gebrochenes Fußgelenk, der Dritte war außer sich und völlig wirr, so sehr hatte es ihm den Kopf im Helm hin und her geschlagen. Ich weiß noch, dass ich dachte, der Junge mit dem gebrochenen Rücken wäre besser gestorben.
    Wie sich jedoch herausstellte, war der Rücken nicht gebrochen. Der Junge konnte, von zwei anderen gestützt, bewegt werden, wenn auch nur unter großen Schmerzen. Der Sanitäter schiente das gebrochene Fußgelenk und fütterte die Verletzten mit so viel Darvon, wie sie vertrugen, ohne ohnmächtig zu werden. Dann hievten wir sie mit Seilen den Felsen hinauf, verteilten ihre Ausrüstung und zogen weiter. Selbst wenn uns ein Hubschrauber hätte finden können, wäre eine Landung unmöglich gewesen. Die Felsen standen zu eng, es war kein Platz für die Rotoren. Wir mussten irgendwo ein breiteres Tal finden.
    Abends saßen wir in einem nassen, dampfenden Kreis auf einem mit Dschungel bedeckten kleinen Gipfel und warteten darauf, dass der Kompaniechef die tägliche Besprechung mit seinen Zugführern begann. Ich zitterte unablässig wegen der Kälte und der fehlenden Kalorien. Ich sehe noch den Dampf von unseren nassen Kleidern aufsteigen. Einer der Zugführer versuchte, einem Unteroffizier eine Dose Pfirsiche abzukaufen, den letzten übrig gebliebenen Proviant der ganzen Kompanie, da der kluge, erfahrene Mann sie sich aufgespart hatte. Auch für die angebotenen fünfunddreißig Dollar, was nach heutigem Wert ungefähr einhundertzwanzig Dollar wären, wollte er sie nicht hergeben.
    Der Chef sagte ruhig: »Ich überlege, ob ich den letzten Befehl missachten soll.«
    Das war, nun, Meuterei. Das Geplänkel hörte auf.
    Wir waren zu einem weiteren Checkpoint befohlen worden, den wir im vorgegebenen Zeitrahmen nur mit einem Nachtmarsch und ungeheurer Geschwindigkeit erreichen konnten, und das mit zwei verletzten Marines. Das Risiko, dass wir jemanden verloren, der im Dunkeln von einem Felsen fiel, vergrößerte sich um ein Zehnfaches. Im Übrigen war uns immer noch kein Grund für die Eile genannt worden. Wir hatten mehrfach gefragt, warum es so schnell gehen musste, aber nur grobe, verärgerte Bemerkungen zurückbekommen, keine Antworten. Es war verständlich, dass niemand einfach so über Funk weitergeben wollte, worum es ging, aber dem Problem hätte man auch mit einer codierten Nachricht entgehen können. Stattdessen wurden wir uncodiert gefragt: »Muss ich erst zu Ihnen geflogen kommen und Ihnen Dampf machen?« Das war Menschenführung auf höchstem Niveau.
    Viel später stückelte ich mir vage zusammen, was da tatsächlich vorgegangen sein musste. Wie zumeist waren es zum Teil die äußeren Umstände, die uns in diese Lage gebracht hatten, und zum Teil menschliches Versagen, in diesem Fall Arroganz, Ignoranz und höchstwahrscheinlich auch Alkoholismus. Wir waren in diesen Albtraum geraten, weil wir den Kampf einer anderen Kompanie mit einer NVA -Einheit unbekannter Größe fortsetzen sollten. Die Kompanie hatte ein Munitionslager entdeckt, selbst aber beim Versuch, es zu erobern, nicht genug Munition gehabt und, was noch schlimmer war, auch nicht den nötigen Sprengstoff, um das Lager in die Luft zu jagen. [58] Die Kompanie musste abgezogen werden, denn neben der Munition fehlte auch die Verpflegung, und die Männer waren erschöpft und zu hoch in den wolkenverhangenen Bergen, um aus der Luft versorgt zu werden. Unsere Kompanie wurde auf niedrigerem Terrain abgesetzt, um unter die Wolken zu kommen und von dort zu den anderen hinaufklettern zu können, die es wiederum zu unserm Landeplatz

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