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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Individualisten zu führen. Das Wesen eines erfolgreichen Politikers besteht darin, sich so zu verhalten, dass er sich im Einklang mit der öffentlichen Meinung bewegt – das ist die Einheit, die die meisten Politiker wählen und die durch ihre Demoskopen genauestens definiert wird. Es gibt die These, Politiker, die Meinungsumfragen folgen, würden nur das tun, was die Leute wollen. Wir leben nun mal in einer Demokratie. Dieses System funktioniert nicht mehr, wenn die Leute etwas Dummes wollen.
    Es liegt an dieser Wahlmöglichkeit, mit welcher Einheit wir uns identifizieren wollen, warum das Thema Treue und Befehle befolgen solche Schwierigkeiten bereitet. Je enger definiert die Einheit ist, desto öfter kommt man in Treuekonflikte und trübes ethisches Wasser. Die kleinste Einheit ist das Individuum, und wir erleben die Folgen dieser Art von Treue viel zu oft, ob im Geschäftsleben, in der Politik oder im Krieg.
    Um effiziente und moralische Kämpfer zu sein, dürfen wir unsere Individualität und unsere Fähigkeit, allein zu entscheiden, nicht verlieren, gleichzeitig aber schulden wir nicht nur uns selbst Loyalität, sondern auch den unbegreifbar großen Einheiten, die Menschlichkeit oder Gott genannt werden. Wenn uns als Sterbliche das Unbegreifbare zu groß ist, stolpern wir mit Treuegefühlen gegenüber mehreren abgespeckten Versionen des Unbegreifbaren dahin, die besser zu uns zu passen scheinen, wie dem Marine Corps, der Familie, Frankreich, den Baptisten oder dem Order of the Eastern Star. Wir müssen jedoch danach streben, diese kleineren Einheiten als Teile von etwas Größerem zu verstehen, das wir nie begreifen werden. Wenn der Moment für eine schwere Entscheidung kommt, kann sie uns im Licht größerer Geister gelingen, selbst wenn wir mit Todesangst im Dreck liegen, umgeben von lauter verängstigten Kids.
     
    Es war die Zeit des Monsuns, und wir patrouillierten durch ewiges Zwielicht. Schwere graue Wolken hingen tief bis in die Baumgipfel. Der Dschungelboden war nass vom ständigen Regen, und wenn die ersten zehn Marines über ihn gegangen waren, wurde er glitschig und saugte an unseren Schuhen. Die Kompanie operierte schon seit Wochen unter diesen Bedingungen allein in den Bergen, durchquerte immer wieder reißende Sturzbäche oder watete durch sie steile Schluchten hinauf. Oft mussten wir uns anseilen, um Felswände zu überwinden. Nachdem das Bataillon unsere letzte Versorgung in einem Tal unter den Wolken verbockt hatte, waren wir seit Tagen ohne Essen, und so hoch in den Bergen war eine Versorgung unmöglich. Noch beunruhigender war, dass Verletzte und Tote nicht ausgeflogen werden konnten und es auch sonst keine Luftunterstützung gab. Niemand würde uns in diesen von Wolken verhangenen Bergen finden. Es war, als hätte sich die Kompanie in ein U-Boot verwandelt und bewegte sich tief durchs Dunkel der Monsunwolken.
    Das Bataillon stand in ständigem Funkkontakt mit uns und trieb den Kompaniechef, der ein Jahr zuvor noch der Führer eines Verbindungshauses an der University of Southern California gewesen war, zur Eile. Es ging darum, bestimmte Checkpoints aufzusuchen, die sie im Hauptquartier auf den an den Bunkerwänden hängenden Karten ausgesucht hatten. Uns wurde nicht gesagt, warum solch eine Eile geboten war. Einer der Checkpoints lag oben auf einem Berg, dessen Besteigung uns einen ganzen Tag kostete. Nachdem wir stolz durchgegeben hatten, dass wir oben seien, bekamen wir einen neuen Zielpunkt unten auf der anderen Seite und dazu die Mahnung, dass wir hinter dem Zeitplan zurücklägen. Es wurde langweilig.
    Wegen des schwierigen Geländes und des sintflutartigen Regens bewegten wir uns sehr langsam voran, der Hunger machte uns noch langsamer. Am dritten Tag ohne Verpflegung hatte ich mit fünf sehr kranken Jungs zu tun, die würgten und Galle spuckten, während wir sie hinter uns herzogen. Sie hatten Rinde von der falschen Art Baum gegessen. In unserer geschwächten Verfassung begannen wir uns Sorgen über mögliche Unfälle zu machen. Aus dem gewohnten gut gelaunten Geplänkel wurden ernste Fragen: »Ist da jemand in Schwierigkeiten? Wozu die verdammte Eile?« Wie die guten Soldaten aller Waffengattungen geben die Marines ihr Leben, wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Aber niemand von uns konnte die Frage beantworten. Es sah verdächtig wie eine Übung aus, bei der Checkpoints innerhalb einer gewissen Zeit erreicht werden mussten.
    Schließlich geschah, was wir befürchtet hatten. Ein

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