Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
Vom Netzwerk:
höhere Verlustraten auf als ihre Männer.
    In meinem Empfinden galt meine Treue einer mythischen, historischen und psychologischen Projektion genannt »die Einheit«. Sie hat tausend spezifische Namen. Es ist das Marine Corps, die Legion und die 82 . Luftlandedivision. Es sind die Gordon Highlanders, und es ist das Oxfordshire and Buckinghamshire Light Infantry Regiment. Es sind all die Flaggen, es ist die Geschichte, das Sterben. Wir würden es gern zu etwas Einfachem machen, zu einer Art internalisiertem Elternteil, dem zu gehorchen wir gewohnt sind. Das trifft aber nur zum Teil zu. Die mythische, historische und psychologische Projektion zu ignorieren, hieße, die Wirklichkeit zu ignorieren. Du weißt, dass Zehntausende von Menschen vor dir Tausenden von ähnlichen Arschlöchern zugehört und ihren Job gemacht haben, und du würdest all die großherzigen Geister im Stich lassen, die sich aufgemacht und den Job trotz dieser Idioten gemacht haben. Ihretwegen handeln wir anders. Diese Geister sind so real wie der Hügel, den wir erstürmen.
    Ein Krieger muss lernen, dass das intensive Treuegefühl der Einheit gegenüber allein von ihm selbst ausgeht. Was tatsächlich physisch existiert, sind Dreck, Feuer, übel zugerichtete Leichen und ängstliche, verschreckte Leute. Er muss auch lernen, dass Individualität nicht unterdrückt werden darf, selbst wenn sich individuelle Handlungen etwas Größerem unterordnen. Man ist sehr verletzlich, wenn man sich einer Einheit anschließt – ob es sich um eine militärische Einheit handelt, ein Unternehmen, eine wohltätige Organisation oder einen Teil der Regierung –, seine Individualität freiwillig für ein größeres Ideal aufgibt und sich deswegen wundervoll fühlt.
    Eric Hoffer hat vor Jahrzehnten schon in seinem Buch
Der Fanatiker. Eine Pathologie des Parteigängers
aufgezeigt, wie berauschend diese Art von Selbstaufgabe ist. Je mehr Geschichte, Ruhm und psychologische Größe die Einheit besitzt, desto größer fühlt man sich. Man muss nicht in die Fremdenlegion eintreten, um zu verstehen, was ich meine. Stell dir vor, du spielst für die Yankees. »Die Yankees«, das ist nicht nur eine Gruppe überbezahlter Athleten auf dem Spielfeld, das sind Babe Ruth, Joe DiMaggio, Micky Mantle und die titanischen Kämpfe mit den Brooklyn Dodgers. All das ist lange her, und doch so greifbar.
     
    Die Selbstaufgabe hat jedoch auch eine dunkle Seite. Man schwächt die Fähigkeit (und verliert sie in manchen Fällen ganz), wohlbegründete Urteile als Individuum fällen zu können, ob im Schmutz des Krieges mit all den verängstigten jungen Männern um sich herum oder in der Überlebensschlacht in einem Unternehmen. [57]
    Man ist geneigter, in der Gruppe zu denken, und lässt sich viel leichter von unzutreffenden Annahmen und falschen Interpretationen der Wirklichkeit leiten. Der Hauptgrund für dieses Hinter-sich-Lassen individueller Perspektiven besteht einfach darin, dass wir angesichts von so viel Schmerz und Leid davor zurückschrecken, eigene Urteile zu fällen, die uns eine Mitverantwortung für den Schmerz auferlegen. Ich selbst wollte mich ganz sicher nie für all das Sterben, das Elend und die Zerstörung verantwortlich fühlen, so verantwortlich ich de facto auch war. Das hätte bedeutet, mir genau darüber klar zu werden, warum ich tat, was ich tat, und dazu gehörten in meinem Fall, in Vietnam, einige sehr üble Dinge.
    Wir waren im Allgemeinen alle heilfroh, nur Rädchen im Getriebe zu sein.
    Einfach nur schlecht ist das auch wieder nicht. Ich bezweifle, dass die großen Kathedralen in Europa gebaut worden wären, hätten nicht einzelne Menschen ihre Individualität aufgegeben und die enorm großen Opfer gebracht, die diese Bauwerke erforderten. Ich bezweifle, dass die Europäer heute, und noch weniger wir Amerikaner, fähig wären, etwas Entsprechendes zu schaffen. Was auch nicht nur schlecht ist.
    Die Wahl zu treffen, wann man sich auf- und hingibt und wann man aufsteht, allein, ist eine Kunst. Es gibt keine Wissenschaft, die dabei weiterhilft, und unglücklicherweise ist auch das Militär nicht unbedingt der beste Ort, um große Weisheit darüber zu erlangen, wann wir besser ein Rädchen im Getriebe bleiben und wann nicht. Tatsächlich idealisiert das Militär die Aufgabe der Individualität und versucht, sie seinen Kämpfern sogar einzuimpfen. Ähnlich tragisch ist es, dass auch zu viele unserer nationalen Führer wenig Erfahrung darin haben, ein Leben als

Weitere Kostenlose Bücher