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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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drehte ihn wieder ab.
Schschscht.
Es klang wie das Rauschen eines Funkgeräts, dessen Empfangsknopf von einem einsamen Horchposten in der Nacht gedrückt wurde. »Aber da stand niemand. Raymond dachte immer noch, sie müssten gleich kommen, sie wären weiter vorn, vielleicht auf der Constitution Avenue. Ja, da warteten sie wahrscheinlich. Mehr im Zentrum der Stadt. Aber als wir in die Constitution Avenue bogen, stand da auch niemand.«
    Ich dachte:
Sie haben mit Zuschauern gerechnet?
    »Einige der Männer scherten aus dem Zug aus.«
    Die zynische Stimme in mir fragte:
Sie haben gedacht, da würden Leute winken?
    »Endlich war dann Applaus zu hören. Vorne. Klatschen. Sie wurden schneller. Die Jungs reihten sich wieder ein. Natürlich, dachten sie, alle sind beim Memorial, wo die Parade endet.«
    »Und? Waren sie dort?«, fragte ich. Vielleicht waren ja tatsächlich Zuschauer gekommen, sagte mir meine innere Stimme. Ich spürte, wie sich meine eigenen toten Hoffnungen neu zu regen begannen.
    »Nein. Auch das waren nur Veteranen, die jetzt die nachkommenden begrüßten.«
    »Ah.«
Und was hast du erwartet?
    »Danach sind die Ersten dann wieder gegangen.«
    In dem Moment kam Raymond durch die Tür, um etwas zu holen. Früher am Abend hatte er mir verschiedene Dinge vom Jubiläum erzählt. Er war uneingeladen auf eine Party der 101 .Airborne Division gegangen, mit einer U.S.-Marine-Jacke. Schweigen. Die alten Rivalitäten. Die Clubs im Club. Er hatte sich ein Bier genommen, es über den Kopf gehoben und »Airborne!« gerufen. Lachen. Applaus.
    Solche Geschichten hatte Raymond erzählt. Solidaritätsgeschichten.
    »Ich habe gerade von der Parade gehört«, sagte ich.
    »Yeah.« Er ging zurück ins Wohnzimmer und vergaß, was er hatte holen wollen.
    »Hat es ihn sehr getroffen?«, fragte ich.
    »Ja, das hat es.«
    »Und dich?«, fragte ich.
    »Mich? Nach all den Jahren, in denen Raymond zu Weihnachten Heulanfälle kriegt, weil er seinen ganzen Trupp am ersten Weihnachtstag verloren hat? Nachdem er heute noch am Esstisch sitzt und seine Augen fliegen ständig hin und her? Nach seinen Wutanfällen? Seinen Schlägereien, wenn er in schwarze Viertel gegangen ist und wahllos in irgendeiner Kneipe ›Nigger!‹ gebrüllt hat? Nur um sich zu prügeln und zusammenschlagen zu lassen? Und nie hat uns einer gesagt, was zum Teufel eigentlich mit ihm passiert ist. Was wir tun könnten. Hilfe gab es nicht. Ich, traurig? Ich bin nicht traurig, ich bin verdammt noch mal wütend!«
     
    Es gibt durchaus eine angemessene Weise, unsere Krieger willkommen zu heißen. Zurückkehrende Veteranen brauchen keine Konfettiparaden oder gelbe Bänder quer durch Texas. Lauter Jubel wäre unangemessen und unreif. Kriegsveteranen wissen besser als jeder andere, wie viel Leid und Übel angerichtet wurde. Ihnen zuzujubeln wäre ähnlich, als applaudierte man einem Chirurgen, der einem Menschen gerade ein Bein amputiert hat, um ihm das Leben zu retten. Jubel wäre kindisch und würde die Getöteten beider Seiten herabwürdigen. Man schüttelt dem Chirurgen ruhig und dankbar die Hand, während man das verlorene Bein betrauert. Ja, es sollte Paraden geben, aber die sollten feierliche Prozessionen mit umgedrehten Gewehren sein, dem Symbol für niedergelegte Waffen. Mit der Würde eines militärischen Begräbnisses sollten sie durchgeführt werden, voller Trauer auch für die toten Feinde, dankbar für die Zurückgekehrten. Hinterher, zu Hause und im kleineren Kreis, kann man den Champagner fließen lassen und das Leben feiern – und auch den Sieg, wenn man auf der Seite der Glücklichen ist.
    Veteranen müssen wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden, zu denen zurückfinden, die sie lieben, und von denen mit Dank bedacht werden, die sie geschickt haben. Ich wollte von jedem Mädchen umarmt werden, das ich je kennengelernt hatte. Bei unseren vernünftigeren Vorfahren gab es Zeremonien wie Schwitzrituale, um die Körper der Heimkehrenden zurück in einen zivilen Modus zu bringen. Mongolische Krieger wurden in geheizte Jurten geführt, wo man ihnen jeden erreichbaren Muskel mit glatten Stäben massierte, um die Gifte herauszudrücken: als Signal an den Körper, dass es an der Zeit war, das Ausschütten von Adrenalin zu beenden.
    Doch es gibt noch eine tiefer reichende Komponente bei der Heimkehr. Der aus dem Krieg zurückkehrende Krieger muss nicht nur Geist und Körper heilen, sondern vor allem auch seine Seele.
     
    Es war zwei Uhr morgens und dunkel,

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