Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
Mein Magen wurde zu Stein. Mir war immer noch schlecht. Trotzdem schaffte ich es, ihn anzusprechen.
»Was ist los?«
Erholte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über das Stoppelkinn. Mir fiel auf, dass seine Lippe in den letzten Tagen abgeheilt war. Seine Augen konnte ich von meinem Blickwinkel aus nicht sehen.
Als er zu reden begann, klang seine Stimme vorsichtig. Kontrolliert. »Joseph hat mir eine SMS geschickt. Sein Freund hat ihm abgesagt und er brauchte jemanden, der ihn von der Schule nach Hause fährt. Aber als ich dort ankam, war er nicht da.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Ich glaube, er wurde verschleppt.« Nein.
Ich hatte Joseph zum letzten Mal heute Morgen beim Frühstück gesehen. Er hatte mir mit der Hand vor dem Gesicht herumgewedelt und ich hatte gesagt, ich hatte gesagt …
Verschwinde. Oh Gott.
Panik durchfuhr mich. »Warum?«, flüsterte ich. Es konnte nicht sein. Es durfte einfach nicht sein.
»Das weiß ich nicht.«
Es war, als hätte ich Nadeln im Hals. »Wer hat ihn verschleppt?«
»Das weiß ich nicht.«
Ich drückte die Handballen auf die Augen. Am liebsten hätte ich mir das Gehirn aus dem Schädel gekratzt. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war das hier nicht real, sondern ein Albtraum. Was mir wahrscheinlich erschien. Oder es war kein Albtraum und Joseph war wirklich verschwunden. Das Letzte, was ich zu ihm gesagt hatte, war: »Verschwinde«, und das hatte er nun getan.
»Unddu weißt, wo er ist?«, fragte ich Noah, weil ich nichts als Fragen hatte und diese die einzige war, die ich formulieren konnte.
»Ich weiß es nicht. Ich fahre dahin, wo ich ihn vermute. Vielleicht ist er dort, vielleicht auch nicht. Das muss für den Moment genügen, okay?«
»Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte ich dumpf, während ich in meiner Hosentasche nach dem Handy suchte.
Es war nicht da.
Es war nicht da, weil ich es gestern gegen die Wand geworfen hatte. Erst gestern. Ich schloss die Augen und fiel trudelnd in den Abgrund.
Noahs Stimme durchbrach meinen freien Fall. »Was würdest du von jemandem denken, der behauptet, er wisse, wo sich ein vermisstes Kind aufhält?«
Ich würde denken, dass dieser Mensch etwas verheimlicht.
»Sie würden mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.« Zum ersten Mal fiel mir auf, dass in seiner Stimme ein Unterton mitschwang. Ein Unterton, der mir Angst machte. »Keine Polizei. Und auch nicht deine Eltern. Wir müssen es tun.«
Ich beugte mich vor und legte den Kopf auf die Knie.
Das hier fühlte sich keineswegs wie ein Traum an. Und auch nicht wie ein Albtraum. Es fühlte sich total real an.
Noahs Hand strich mir über den Nacken. »Wenn wir ihn nicht finden, rufen wir die Polizei«, sagte er sanft.
Mein Hirn war ein wüstes Land. Ich konnte weder sprechen noch denken. Ich nickte einfach nur und schaute auf die Uhr an Noahs Armaturenbrett. Ein Uhr früh. Wir überholten einige Autos, während wir über die Autobahn rasten, doch als Noah nach über einer Stunde abfuhr, verstummten die Geräusche von Miami. Die wenigen Straßenlaternen, an denen wir vorüberkamen, tauchten den Wagen in gelbliches Licht. Wir setzten schweigend unseren Weg fort und die Laternen wurden immer weniger. Schließlich kamen überhaupt keine mehr und vor uns erstreckte sich nichts als die Straße, die von unseren Scheinwerfern spärlich beleuchtet wurde. Die gähnende Dunkelheit wölbte sich über uns wie eine Tunneldecke. Ich sah zu Noah hinüber und biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Oder zu schreien.
Als er schließlich stehen blieb, sah ich vor uns nichts als hohes Gras, das im heißen Wind wogte. Keine Gebäude. Nichts.
»Wo sind wir?«, fragte ich vorsichtig und wurde fast übertönt von den Grillen und Zikaden.
»In Everglades City«, antwortete Noah.
»Nach einer Stadt sieht das nicht gerade aus.«
»Sie grenzt direkt an den Nationalpark.« Noah drehte sich zu mir um. »Du würdest sicher nicht im Auto warten, selbst wenn ich dich darum bitte, oder?«
Es war ein Feststellung und keine Frage, aber ich antwortete trotzdem: »Nein.«
»Selbst wenn alles andere scheißgefährlich wäre.«
»Selbst dann.«
»Selbst wenn wir beide es vielleicht nicht –«
Noahs Mund sprach den Satz nicht zu Ende, aber seine Augen taten es. Wir beide würden es vielleicht nicht überleben, sagten sie. Was für ein Albtraum. Ich schmeckte Gallenflüssigkeit.
»Wennich es nicht … schaffe«, sagte Noah, »tust du alles, was nötig ist, um Joseph
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