Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
aufzuwecken. Hier«, sagte er und fasste in seine Hosentasche. »Nimm meine Schlüssel. Gib deine Adresse in das Navi ein und fahr einfach drauflos, ja? Dann rufst du die Polizei.«
Ich nahm Noahs Autoschlüssel und schob sie in die Gesäßtasche meiner Jeans. Ich gab mir Mühe, fest zu klingen, als ich sagte: »Du machst mir eine Scheißangst.«
»Ich weiß.« Noah wollte aussteigen und ich tat es ihm nach. Er hielt mich zurück.
Fauliger Pflanzengeruch stieg mir in die Nase. Noah wandte sich dem vor uns liegenden Gräsermeer zu und zog seine Taschenlampe heraus. Erst da fiel mir auf, dass seine Kratzer noch da waren. Sie waren ein wenig verheilt, aber der Bluterguss auf seiner Wange ließ sein Gesicht eingefallen wirken. Ein Schauer überlief mich.
Ich hatte entsetzliche Angst. Vor dem Sumpf und der Aussicht, dass Joseph tatsächlich dort sein könnte. Vor der Möglichkeit, dass wir ihn vielleicht nicht finden würden. Dass er weg war und verschwunden, wie ich es gesagt hatte, und dass ich ihn nie zurückbekommen würde.
Noah schien meine Verzweiflung zu spüren, denn er nahm mein Gesicht in die Hände. »Ich glaube nicht, dass irgendwas passieren wird. Es ist nicht weit, vielleicht einen halben Kilometer. Aber vergiss nicht: Schlüssel und Navi. Fahr zur Autobahn und dann weiter, bis du zu deiner Ausfahrt kommst.«
Er ließ die Hände sinken und trat ins Gras. Ich folgte ihm.
Vielleicht wusste er mehr, als er sagte, vielleicht auch nicht. Vielleicht war das ein Albtraum, vielleicht auch nicht. So oder so, in irgendeiner Form war ich hier. Und falls Joseph auch hier sein sollte, würde ich ihn zurückholen.
Das Wasser durchtränkte sofort meine Turnschuhe. Noah sprach kein Wort, während wir durch den Schlamm wateten. Etwas, was er gesagt hatte, nagte in mir, doch es löste sich auf, ehe ich es zu fassen bekam. Außerdem musste ich aufpassen, wo ich hintrat.
Rings um uns herum vereinte sich das Quaken der Frösche zu einem tiefen Bassgebrumm. Wenn ich nicht gerade von Mücken gestochen wurde, malträtierte das scharfe Riedgras meine Haut. Es juckte überall, meine Nerven waren gereizt und das Summen der Insekten verstopfte mir die Ohren. Ich war so abgelenkt, so sehr damit beschäftigt, dass ich fast an Noah vorbeigelaufen wäre.
Direkt in den kleinen Wasserarm.
45
V erschlungeneMangrovenwurzeln versanken in der schwarzen Brühe und auf der gegenüberliegenden Seite dehnte sich eine endlose Grasfläche vor uns aus. Eine schmale Mondsichel hing am Himmel; ich hatte noch nie im Leben so viele Sterne gesehen. Mit knapper Not konnte ich in der Dunkelheit ganz in der Nähe die Umrisse eines Gebäudes ausmachen. Noah blickte auf die stille Wasserfläche.
»Wir müssen auf die andere Seite«, sagte er.
Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, was das hieß. Alligatoren. Und Schlangen. Doch sie hätten ebenso gut bereits zwischen Noahs Auto und der Stelle, an der wir jetzt standen, auf uns lauern können. Warum sollten wir den Wasserlauf also nicht durchqueren? Kein Problem.
Noah ließ den Strahl der Taschenlampe über die Wasseroberfläche hüpfen. Sie warf den Lichtschein zurück und darunter war nichts zu erkennen. Das Gewässer war etwa neun Meter breit, wie weit es sich in die anderen Richtungen erstreckte, ließ sich nicht sagen. Das Gras ging in Schilf über und das Schilf in Wurzelgestrüpp, das mir die Sicht nahm.
Noah sah mich an. »Kannst du schwimmen?«
Ichnickte.
»Also gut. Du folgst mir, aber nicht, bevor ich drüben bin. Und spritz nicht herum.«
Er kletterte das steile Ufer hinunter und ich hörte, wie er die Wasseroberfläche durchbrach. Noah hielt die Taschenlampe in der Rechten und kam ein gutes Stück voran, ehe er anfangen musste zu schwimmen. Allerdings war er weit über eins achtzig groß. Ich würde nicht so weit kommen. Mein Magen zog sich aus Angst um uns beide zusammen und die Aufregung schnürte mir die Kehle zu.
Als ich hörte, wie Noah sich drüben aus dem Wasser zog, bekam ich vor Erleichterung weiche Knie. Er drehte die Taschenlampe nach oben und ließ sein Gesicht gespenstisch aufleuchten. Er nickte und ich machte mich an den Abstieg.
Ich schlitterte und rutschte das Ufer hinunter. Meine Füße glitten in das algige Wasser, bis sie den Schlamm berührten. Das Wasser fühlte sich seltsam kühl an, trotz der schwülheißen Lufttemperatur. Es reichte mir bis zu den Knien. Beim nächsten Schritt bis zu den Oberschenkeln. Beim übernächsten bis zu den Rippen. Es
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