Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Titel: Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Hodkin
Vom Netzwerk:
doch die meisten Plätze waren schon belegt. Ich setzte mich an einen der letzten freien Tische in der zweiten Reihe und ignorierte das Gekicher zweier Mitschüler, die ich aus Algebra II wiedererkannte. Ms Leib, die Lehrerin, war damit beschäftigt, etwas an die Tafel zu schreiben. Als sie fertig war, drehte sie sich lächelnd zur Klasse um.
    »Guten Morgen, Leute. Wer kann mir sagen, was dieses Wort bedeutet?«
    Sie zeigte auf die Tafel, an der das Wort »Hamartia« stand. Ich schöpfte Mut, denn dieses Thema hatten wir schon durchgenommen. Der erste Punkt für das staatliche Schulsystem von Laurelton. Ich sah mich kurz in der Klasse um. Niemand hob die Hand. Ach, zum Teufel. Ich meldete mich.
    »Ah,die neue Schülerin.«
    Ich brauchte wirklich dringend diese Schuluniform. Das Lächeln, mit dem sich Ms Leib an ihr Pult lehnte, war echt. »Wie heißen Sie?«
    »Mara Dyer.«
    »Schön, Sie kennenzulernen, Mara. Legen Sie los.«
    »Verhängnisvoller Makel«, rief jemand. Mit britischem Akzent.
    Ich drehte mich halb auf meinem Stuhl um und hätte den Jungen von gestern auch dann erkannt, wenn er mit seinem offenen Kragen, dem lose umgelegten Schlips und den aufgerollten Hemdsärmeln nicht ebenso zerknittert ausgesehen hätte wie gestern. Er war immer noch wunderschön und immer noch am Lächeln. Ich sah ihn mit schmalen Augen an.
    Die Lehrerin tat das Gleiche. »Vielen Dank, Noah, aber ich hatte Mara aufgerufen. Außerdem ist ›verhängnisvoller Makel‹ nicht unbedingt die präziseste Antwort. Wollen Sie Ihr Glück versuchen, Mara?«
    Das wollte ich, vor allem jetzt, wo ich wusste, dass der britische Junge der berühmt-berüchtigte Noah Shaw war.
    »Es bedeutet Fehler oder Irrtum«, sagte ich. »Mitunter spricht man auch von Charakterschwäche.«
    Ms Leib nickte anerkennend. »Sehr gut. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und vermute, dass Sie die Thebanische Trilogie an Ihrer alten Schule schon durchgenommen haben?«
    »Ja«, sagte ich und kämpfte gegen meine Befangenheit an.
    »Dann sind Sie den anderen voraus. Wir sind gerade mit König Ödipus fertig geworden. Kann mir noch jemand – außer Mara – sagen, was Ödipus’ Schwäche war?«
    Noah war der Einzige, der die Hand hob.
    »Zweimal an einem Tag, Mr Shaw? Das ist gänzlich ungewöhnlich. Bitte, geben Sie der Klasse doch eine weitere Kostprobe Ihres blendenden Intellekts.«
    Noah starrte mir geradewegs in die Augen, während er sprach. Ich hatte mich gestern getäuscht, sie waren nicht grau, sondern blau. »Seine fatale Schwäche war seine mangelnde Selbstkenntnis.«
    »Oder sein Stolz«, gab ich zurück.
    »Eine Debatte!« Ms Leib klatschte in die Hände. »Wie schön. Und es wäre noch schöner, wenn der Rest der Klasse ebenfalls Lebenszeichen von sich geben würde. Aber gut.« Die Lehrerin drehte sich um und schrieb meine und Noahs Antwort unter den Begriff »Hamartia« an die Tafel.
    »Ich denke, es gibt für jede Behauptung Argumente; dass Ödipus’ Weigerung, anzuerkennen, wer er war – sich also selbst zu kennen, wenn man so will –, seinen Niedergang verursachte und dass sein Stolz, genauer gesagt, seine Hybris, zu seinem Untergang führte. Bis zum nächsten Montag möchte ich von Ihnen allen fünf Seiten mit einer brillanten Analyse des Themas.«
    Die Klasse stöhnte geschlossen auf.
    »Sparen Sie sich das. Nächste Woche fangen wir mit den Antihelden an.«
    Dann fuhr Ms Leib in ihrem Stoff fort, von dem ich den größten Teil schon kannte. Ein bisschen gelangweilt holte ich meine heiß geliebte und mit zahlreichen Eselsohren versehene Ausgabe von Lolita heraus und versteckte sie unter dem Notizblock. Die Klimaanlage im Raum schien nicht zu funktionieren, denn die Atmosphäre wurde mit jeder Minute, die verging, stickiger. Als es schließlich läutete, lechzte ich nach Frischluft. Ich sprang auf und warf dabei meinen Stuhl um. Als ich mich bückte, um ihn wieder aufzurichten und an seinen Platz zu stellen, hatte ihn bereits jemand anders in der Hand.
    Noah.
    »Danke«, sagte ich, als unsere Blicke sich begegneten. Er betrachtete mich mit dem gleichen wissenden Ausdruck wie gestern. Ein wenig aus dem Konzept gebracht wandte ich die Augen ab und raffte meine Sachen zusammen, ehe ich aus dem Klassenzimmer eilte. Eine entgegenkommende Schülerhorde rempelte mich an und das Buch fiel mir zu Boden. Noch bevor ich die Hand danach ausstrecken konnte, fiel ein Schatten auf den Umschlag.
    »›Man muss ein Künstler sein, und ein Wahnsinniger

Weitere Kostenlose Bücher