Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
ab.«
»Das Problem lässt sich leicht lösen.« Ich verschränkte die Arme vor meinem Tanktop.
Jude machte ein verwirrtes Gesicht. Seine Augen wurden vom Schirm seiner Baseballkappe verdunkelt, doch es war offensichtlich, dass er meine Schlafklamotten musterte.
»Oh Mann. Du bist ja nicht mal angezogen.«
»Ich bin angezogen. Und zwar fürs Bett. Es ist zwei Uhr nachts.«
Mit großen, spöttischen Augen sah er mich an. »Du hast es vergessen, nicht?«
»Ja«, log ich. Ich beugte mich leicht aus dem Fenster und sah in die Einfahrt. »Warten sie im Auto?«
Jude schüttelte den Kopf. »Sie sind schon in der Anstalt. Wir sind allein. Komm jetzt.«
11
S chweißgebadetund verängstigt erwachte ich mitten in der Nacht mit einem Schrei in der Kehle und einem Riesengewicht auf der Brust. Ich konnte mich erinnern. Ich erinnerte mich. Fast schmerzhaft fluteten die Erinnerungen zurück. Jude an meinem Fenster, der gekommen war, um mich abzuholen und zu Rachel und Claire zu bringen, die auf uns warteten.
So war ich in jener Nacht dort hingekommen. Die Erinnerung machte mir keine Angst, aber vielleicht die Tatsache, dass es sie gab. Vielleicht war sie aber auch weniger beängstigend als aufregend . Ich wusste mit Bestimmtheit, dass mein schlafender Geist sie nicht erfunden hatte, dass die Erinnerung echt war. Ich suchte an den Rändern meines Bewusstseins nach mehr, doch da war nichts, nicht der kleinste Hinweis darauf, warum wir dort hingegangen waren.
Adrenalin strömte durch meine Adern und ich konnte nicht wieder einschlafen. Der Traum – die Erinnerung – wiederholte sich in einer Endlosschleife und verstörte mich mehr, als er sollte. Warum jetzt auf einmal? Was konnte ich tun? Was sollte ich tun? Ich musste mich an jene Nacht erinnern, in der ich Rachel verloren hatte – um ihretwillen. Und um meinetwillen. Auch wenn meine Mutter nicht damit einverstanden wäre. Mein Geist schütze sich vor dem Trauma, würde sie sagen. Es sei »ungesund«, die Erinnerung herbeizuzwingen.
Nach der zweiten Nacht mit dem gleichen Traum, dem gleichen Entsetzen, begann ich, ihr insgeheim zuzustimmen. In der Schule war ich am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen, und am übernächsten auch nicht. In Miami wehte ein heißer Wind, doch ich spürte die eisige Dezemberluft von Neuengland auf meinen Armen. Sobald ich die Augen schloss, sah ich Jude vor meinem Fenster stehen. Und ich dachte an Rachel und Claire, die auf mich warteten. In der Anstalt .
Dabei war im Moment nichts wichtiger, als die Ruhe zu bewahren, bei all dem, was ich in der Schule um die Ohren hatte. So kam es, dass ich mich an diesem Freitagmorgen auf die kleinen Dinge konzentrierte: auf den Mückenschwarm, an dem ich fast erstickte, als ich auf dem Parkplatz aus Daniels Wagen stieg, oder auf die schwül-heiße Luft. Ich dachte an alles Mögliche, um nicht an meinen jüngsten Traum oder die Erinnerung, oder was immer es war, denken zu müssen, die zum Bestandteil meines nächtlichen Repertoires geworden waren. Ich war froh, dass Daniel an diesem Morgen einen Zahnarzttermin hatte. Mir war nicht nach einer Unterhaltung zumute.
Als ich in der Schule ankam, war der Parkplatz noch leer. Ich war früh dran, weil ich extra mehr Zeit eingeplant hatte. Blitze leuchteten in weit entfernten violetten Wolken, die sich wie eine dunkle Decke über den Himmel ausbreiteten. Es würde bald regnen, aber ich konnte nicht stillsitzen. Ich musste etwas tun, mich bewegen, um die Erinnerung abzuschütteln, die an meinem Geist nagte.
Ichschwang die Wagentür auf und marschierte los, wobei ich an mehr als nur ein paar leeren, unwirtlichen Grundstücken und heruntergekommenen Häusern vorbeikam. Ich weiß nicht, wie weit ich schon gelaufen war, als ich das Wimmern hörte.
Ich blieb stehen und horchte auf das Geräusch. Vor mir befand sich ein Maschendrahtzaun, der zusätzlich mit Stacheldraht versehen war. Es gab kein Gras, nur hellbraune, festgepackte Erde und Schlamm an den Stellen, wo der Boden vom Regen der vergangenen Nacht noch nass war. Der Platz war voller Gerümpel: Maschinenteile, Stücke von Karton, Müll und ein großer Stapel Holz. Überall lagen Nägel im Dreck.
Ich schlich zum Zaun und stellte mich auf die Zehenspitzen, um den ganzen Platz zu überschauen. Nichts. Ich ging in die Hocke, in der Hoffnung, von dort eine andere Perspektive zu haben. Meine Augen glitten über einen Stapel mit Autoteilen über den verstreuten Müll hinüber zu dem Holzstoß. Der kurze,
Weitere Kostenlose Bücher