Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
durch die Schlitze meines Faches passte, und thronte unschuldig oben auf dem Bücherstapel. Ein dickes Blatt Papier mit meinem Namen darauf.
Säurefreies, schneeweißes Papier. Skizzierpapier.
Ich faltete den Zettel auf und erkannte auf der Stelle eine meiner Zeichnungen von Noah. Auf der anderen Seite stand einfach nur:
Ich habe etwas, das dir gehört.
Wenn du es wiederhaben willst, triff mich in der Mittagspause bei den Automaten.
EineHitzewelle überlief mich. Hatte Noah mein Skizzenbuch gestohlen? Ich war selbst überrascht von meiner plötzlichen Wut. Ich hatte noch nie jemanden geschlagen, aber irgendwann war immer das erste Mal. Ich verlieh dem Gedanken Ausdruck, indem ich die Metalltür meines Schließfaches scheppernd zuknallte.
Ich weiß nicht mehr, wie ich ans Ende der Treppe gelangte. Im einen Moment war ich noch bei den Schließfächern, im nächsten bog ich bei den Verkaufsautomaten um die Ecke. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn es nicht Noah war, sondern jemand anders? Jemand wie – o nein. Wie Anna. Ich stellte mir vor, wie sie ihren Freundinnen unter lautem Gegacker meine Skizzen von Noah zeigte.
Und siehe da, als ich ankam, war es niemand anderes als Anna, die mich mit einem hämisch-zufriedenen Lächeln in ihrem nichtssagenden Puppengesicht erwartete. Flankiert von Aiden verstellte sie mir den Weg.
Als ich sie erblickte, war ich zunächst noch zuversichtlich, mit der Sache fertigwerden zu können. Ich hatte fast damit gerechnet, dass Anna irgendeine Nummer abziehen würde. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren mehrere Dutzend Schüler, die sich versammelt hatten, um diesen Zug entgleisen zu sehen.
Und was mich innerlich aufschreien ließ, war die Anwesenheit von Noah in einem Kreis von Bewunderern beiderlei Geschlechts.
In diesem Moment wurde mir die Dimension von Annas Anschlag erst richtig bewusst. Mir drehte sich fast der Magen um, als die Puzzleteilchen an ihren Platz fielen und ich begriff, warum die anderen und auch Noah da waren. Anna hatte diesen Affenzirkus ausgetüftelt, seit Noah mich an meinem ersten Tag das erste Mal angesprochen hatte. Es war ihr schwarzer Mercedes gewesen, den ich letzte Woche fast gestreift hatte; sie hatte mich aus Noahs Wagen steigen sehen. Jetzt fehlten ihr nur noch Monokel und Zylinder, um die Rolle des Zirkusdirektors zu komplettieren.
Oh, Anna. Ich habe dich unterschätzt.
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich war am Zug. Wenn ich mitspielte.
Während ich dastand und mit mir rang, ließ ich den Blick über die versammelte Schülerschar wandern. Schließlich sah ich Anna abwartend an. Wer zuerst spricht, hat verloren. Sie enttäuschte mich nicht.
»Suchst du vielleicht das hier?«, flötete sie unschuldig und hielt mein Skizzenbuch in die Höhe.
Ich griff danach, doch sie riss es fort. »Du dummgeiles Frettchen«, sagte ich mit knirschenden Zähnen.
Anna tat schockiert. »Also wirklich, Mara. Was für eine Ausdrucksweise! Ich will doch nur etwas seiner rechtmäßigen Eigentümerin zurückgeben. Das bist du doch, oder?«, fragte sie und schlug die erste Seite des Skizzenbuches auf. »Mara Dyer«, las sie laut vor. »Das bist du«, fügte sie mit Nachdruck hinzu und unterstrich das Ganze mit einem Schnauben. Ich erwiderte nichts. »Aiden war so lieb, es mitzunehmen, nachdem du es in Mathe liegen gelassen hast.«
Aiden lächelte wie auf Knopfdruck. Er musste es mir aus der Tasche gestohlen haben.
»Dumeinst wohl, er hat es geklaut.«
»Ich fürchte, du täuschst dich, Mara. Du hast es wahrscheinlich achtlos irgendwo hingelegt«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge.
Jetzt, wo sie die Bühne bereitet hatte, begann Anna, das Buch durchzublättern. Es gab nichts, was ich tun konnte, um den Schaden einzugrenzen. Die Zeichnungen von Noah waren ungemein präzise und liebevoll festgehaltene Momentaufnahmen, die meine grenzenlose Verliebtheit sofort enthüllen würden. Die Demütigung wäre perfekt, und das wusste Anna.
Das Gefühl der Niederlage ließ meine Wangen erglühen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich emotional schlachten zu lassen und, vor der ganzen Schule gedemütigt, die Stellung zu halten, bis Anna genug hatte.
Und dann würde ich mir mein Skizzenbuch abholen, schließlich gehörte es mir.
Ich wollte Noahs Gesicht nicht sehen, wenn Anna die Seite aufschlug, auf der er zum ersten Mal auftauchte. Ich würde sterben, wenn ich ihn grinsen, lachen oder die Augen verdrehen sah, und ich durfte hier und heute
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