Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
nicht losheulen. Also heftete ich den Blick starr auf Anna und sah mit an, wie sie zitternd vor Bosheit zu ihm hinüberging. Die halbkreisförmige Menge nahm die Form eines Mondes an, mit Noah an der Spitze.
»Noah?«, gurrte sie.
»Anna«, erwiderte er tonlos.
Sie blätterte von einer Seite zur nächsten und ich hörte, wie das Geflüster zu Gemurmel wurde, hörte von irgendwoher ein helles Lachen, das jedoch erstarb. Um Eindruck zu schinden, blätterte Anna ganz langsam und hielt das Buch dabei wie eine sadistische Schulmeisterin, die dafür sorgen wollte, dass die versammelte Menge möglichst viel davon mitbekam. Alle sollten Gelegenheit haben, sich an meiner Schande lange und ausgiebig zu weiden.
»Das sieht dir sooo ähnlich«, sagte sie zu Noah und drängte sich an ihn.
»Mein Mädchen hat eben Talent«, sagte Noah. Mir blieb das Herz stehen.
Anna blieb das Herz stehen.
Allen blieb das Herz stehen. Selbst das Summen einer einzelnen Stechmücke hätte in der Stille unerträglich laut gewirkt.
»Quatsch«, wisperte Anna schließlich, doch es war laut genug, dass alle es hören konnten. Sie hatte sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt.
Noah zuckte die Achseln. »Ich bin nun mal ein eingebildeter Kerl und Mara verwöhnt mich nach Strich und Faden.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich bin nur froh, dass du ihr anderes Skizzenbuch nicht in deine dreckigen kleinen Pfoten gekriegt hast. Das wäre wirklich peinlich gewesen.« Er verzog den Mund zu einem verschmitzten Grinsen, als er von dem Picknicktisch rutschte, auf dem er gesessen hatte. »Und jetzt lass mich in Ruhe«, sagte er seelenruhig zu der geschockten Anna, schob sich an ihr vorbei und nahm ihr rüde das Skizzenbuch aus der Hand.
Und kam zu mir herüber.
»Gehen wir«, befahl er sanft, sobald er neben mir stand. Dann hielt er mir die Hand hin.
Ichwollte sie ergreifen und Anna ins Gesicht spucken, ich wollte ihn küssen und Aiden Davis das Knie in die Weichteile rammen. Doch meine zivilisierten Anteile setzten sich durch und ich zwang meine Muskeln, den Signalen meines Gehirns zu gehorchen, bevor ich meine Hand in seine legte. Ein Stromstoß schoss von meinen Fingerspitzen bis dorthin, wo sich einmal mein Magen befunden hatte.
Und plötzlich gehörte ich einfach so und ganz und gar zu ihm.
Keiner von uns sagte etwas, bis wir außer Hör- und Sichtweite der schockierten und sprachlosen Schülerschar waren. Bei einer Bank am Basketballfeld blieb Noah schließlich stehen und ließ meine Hand los. Sie fühlte sich leer an, doch mir blieb kaum Zeit, den Verlust zu registrieren.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
Ich nickte und sah an ihm vorbei. Meine Zunge fühlte sich taub an.
»Sicher?«
Ich nickte wieder.
»Ganz sicher?«
Ich funkelte ihn an. »Mir geht’s gut«, fauchte ich.
»So ist es recht, mein Mädchen.«
»Ich bin nicht dein Mädchen«, sagte ich, giftiger als beabsichtigt.
»Na schön«, entgegnete Noah und betrachtete mich mit merkwürdigem Blick. Er runzelte die Stirn. »Wegen vorhin.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sagte ich gar nichts.
»Dumagst mich«, sagte er schließlich. »Du magst mich, magst mich, magst mich.« Er gab sich Mühe, nicht zu lächeln.
»Nein, ich hasse dich«, erwiderte ich, in der Hoffnung, es würde sich dadurch bewahrheiten.
»Und trotzdem zeichnest du mich.« Völlig unbeeindruckt von meiner Erklärung grinste Noah weiter.
Es war die reinste Qual; fast noch schlimmer als das, was kurz zuvor passiert war, obwohl es sich nur zwischen uns beiden abspielte. Vielleicht lag es auch gerade daran.
»Warum?«, fragte er.
»Warum was?« Was sollte ich sagen? Lieber Noah, obwohl du ein Arschloch bist, oder vielleicht gerade deshalb, würde ich dir am liebsten die Klamotten vom Leib reißen und mir von dir ein Kind machen lassen, aber verrat’s bitte niemandem?
»Warum das alles?«, fuhr er fort. »Am besten fängst du damit an, warum du mich hasst, und machst weiter, bis du zu den Zeichnungen kommst.«
»Ich hasse dich nicht wirklich«, sagte ich geschlagen.
»Das weiß ich.«
»Warum fragst du mich dann?«
»Weil ich wollte, dass du es zugibst«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
»Schon passiert«, antwortete ich mit einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit. »Sind wir jetzt fertig?«
»Du bist der undankbarste Mensch der Welt«, sagte er nachdenklich.
»Da hast du recht«, erwiderte ich tonlos. »Danke, dass du mich gerettet hast. Ich muss jetzt gehen.«
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