Was ich dich traeumen lasse
Rico.«
»Oh.«
»Ich kann immer erst spät kommen. Na ja, die Arbeit, die Kinder. Abends kann meine Mutter aufpassen.«
»Verstehe.«
»Kommst du oder gehst du?«
»Ich komme.«
»Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Du auch einen?«
»Nein danke.«
»Schickes Kleid. Sein Lieblingskleid?«
»Na ja.«
»Er wird sich freuen. Paul mochte â mag! â mich am liebsten in Jeans. Und dazu High Heels. Am besten beides zusammen. Männer.« Sie lacht.
»Ja.« Ich lache auch.
»Er ist schon seit einem Dreivierteljahr hier.«
»Oh. Das ist â¦Â«
»Normal. Kein Grund, die Hoffnung aufzugeben, richtig?«
»Richtig.«
Sie lacht wieder. »Ich komme jetzt so viel zum Stricken, dass die Kinder jeden Tag des Jahres ein neues Paar Socken anziehen könnten. Er bekommt auch welche. Mit lustigen Farben. Bestimmt spürt er das.«
»Bestimmt.«
»Wie lange ich schon nicht mehr im Kino war.« Wieder lacht sie. »Oder mal aus, mit Freunden. Sie brauchen uns halt, richtig?«
»Richtig.«
»Man muss einfach durchhalten. Was ist schon ein Jahr.«
»Ja.«
»Für die Kinder ist es schwer. Sie langweilen sich. Der Kleinste hat gestern gesagt, er will nicht mehr zu Papa. Er hat seinem Papa einen Ball an den Kopf geworfen. Und Papa konnte nicht schnappen. Jetzt ist er beleidigt.« Sie lacht. »Kinder. Sie haben ein anderes Zeitempfinden. Sie können nicht sehen, dass ein Jahr nur ein Jahr ist.«
»Nein.«
»Du bist ja auch noch jung.«
»Geht so.«
Sie hebt ihre Hand, legt sie mir auf die Schulter. »Kannst ja mal klopfen. Dann quatschen wir. Es tut gut, sich auszutauschen. Ich kann dir Tipps geben. Ich habe eine Massagetechnik gelernt. Es gibt da einen Kurs hier in der Klinik. Es heiÃt, das ist die beste Stimulation, die es gibt. Ich zeig es dir. Und ein paar Socken kannst du dir auch aussuchen. Für deinen Freund auch.« Sie lacht.
»Oh. Ja, wieso nicht.« Ich lache auch.
»Man sieht sich.«
»Ja, sicher.«
Sie geht. Ich bin froh. Sie geht gerade, als hätte sie ein Buch auf dem Kopf. Und trotzdem scheint es, als würde der Rücken jeden Moment nachgeben unter einer unsichtbaren Last. Auch er ist alt.
Was ist schon ein Jahr.
Ein Jahr.
Ich atme ein und aus, bevor ich die Tür öffne. Ich lache. »Die Frau von deinem Nachbarn war gerade im Flur. Sie hat Socken für dich gestrickt. Sie â¦Â«
Was soll das?
Was interessiert es ihn, wer im Nebenzimmer liegt?
Er hat keinen Nachbarn.
Er hat nicht mal sich selbst.
Er braucht keine bunten Socken.
Er braucht sein Leben zurück.
Leben.
Ich setze mich auf den Stuhl am Bett. Es leuchtet nur eine schwache Lampe, die indirektes Licht auf ihn wirft. Er sieht besser aus in diesem Licht. Seine Hand liegt, wo sie immer liegt. Ich schiebe meine unter seine. Ich hole die Liste aus der Hosentasche und halte sie ihm vor die geschlossenen Augenlider. »Soll ich das für dich machen, nur für alle Fälle?«
*Â *Â *
WeiÃt du noch, was für Pläne wir hatten? So viele. Für fast neunzig weitere Jahre. »Wir machen Abi. Und zwar mit eins Komma irgendwas«, sagtest du.
Und ich: »Ich bestimmt, aber du?«
»Wenn du mir in Bio und Chemie Nachhilfe gibst, schaff ich das auch.«
»Ich bin deine Freundin, nicht deine Lehrerin.«
»Das ist doch dasselbe. Man lernt nur von Leuten, mit denen man in einer Beziehung steht.«
»Fürs Leben.«
»Und für Naturwissenschaften.«
WeiÃt du noch, wo dieses Gespräch stattfand? Dieser kleine Hügel, der so gar nicht in die Landschaft passen wollte. Eine alte Mülldeponie. Wir fragten uns, was wohl unter uns beerdigt lag. LampenfüÃe, Autoreifen. Blechdosen, in denen ein Kind, das heute schon ein GroÃvater war, seine Schätze aufbewahrt hatte. Wir hatten das Gefühl, auf dem Mountsonstwas zu sitzen und bis in alle Ewigkeit schauen zu können. Vor uns nur flaches Land. Wiesen.
»Erstaunlich, wie die Gedanken fliegen, wenn die Augen in die Ferne schweifen dürfen«, sagtest du. Und doch waren deine Gedanken schon wieder ganz woanders. »Wenn wir das Abi haben, hauen wir ab.«
»Ab?«, fragte ich.
 »Wir studieren woanders.«
»Aber â¦Â«
Du drücktest mir die Hand auf den Mund. »Nein, heute keine Abers. Keine Realität. Heute darf ich planen, was
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