Was ich dir noch sagen will
dachte an die würfelförmigen Verpackungen, aus denen sie in den Schulpausen ihren Kakao für 20 Pfennig geschlürft hat. Sie dachte an ihre engsten Freundinnen damals und an die Lehrer, die sie am wenigsten und am meisten gemocht hat. Und sie dachte an ihre Mutter, die damals noch weit jünger gewesen war als sie heute. Ihre Mutter, die jedes Mal aufstöhnte und sofort das Badewasser einließ, wenn Lenny und sie vom Spielen im Matsch hereinkamen. Sie dachte an ihren knallgelben Regenmantel und an ihre grün-gelben Gummistiefel und an die vielen Flicken, mit denen ihre Oma Helene versuchte, die Hosen zu retten, die zuvor schon Lenny getragen hatte.
Das schönste Kindheitsgefühl aber verband Lisa mit dem Gedanken an all ihre Pullover und Schlafanzüge aus Nickistoff. Sie fragte sich, ob es nur ihr so ging oder aber ob alle Vertreter ihrer Generation sofort in sentimentale Verzückung gerieten, wenn sie an dieses Material und die farbenfrohen Muster in Orange, Grün und Braun dachten. Natürlich wollten die Kinder von heute Kleidung tragen, die topmodern war und von angesagten Modelabels stammte.
Doch was war mit Babys, die noch zu jung waren für einen eigenen Geschmack oder einen eigenen Willen?, fragte sich Lisa. Deren Eltern waren heute etwa alle im gleichen Alter wie sie. Vielleicht hatten sie eine ähnliche Sehnsucht nach der vermeintlich heilen oder zumindest überschaubareren Zeit ihrer Kindheit. Würden sie sich dieses Gefühl bewahren wollen, etwa durch das entsprechende Einkleiden ihrer Kleinen?
Sofort griff Lisa nach ihrem Skizzenblock, um mit wenigen Strichen ihre spontanen Ideen festzuhalten. Ihre Hände hatten Mühe, all die Einfälle in dem Tempo auszuführen, in dem sie in ihrem Kopf umherwirbelten.
Lisa prüfte Stoffe, kombinierte Farbmuster, notierte Bestellnummern und zeichnete wild drauflos: Latzhosen mit Schlag und Zierflicken, Schürzenkleider, Pullover, Jäckchen, Shirts, Strampler. Und alles im derzeit angesagten Retrostil.
Bislang hatten weder Lisa noch Jutta ernsthaft in Betracht gezogen, auch mit Klamotten für Kinder ihr Glück zu versuchen.
Dabei lag die Idee auf der Hand, dachte Lisa begeistert. Etliche Kundinnen kamen mit ihren Sprösslingen und Kinderwagen in den Laden. Der Stadtteil wimmelte nur so von jungen Familien. Und sicher gab es genügend Eltern, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Nachwuchs individuell kleiden wollten, um sich von der Masse zumindest nach außen hin etwas abzuheben.
Da die Schnitte bei Kinderbekleidung recht einfach waren, würde das Schneidern nicht über die Maßen aufwändig sein wie etwa für Abendgarderobe oder Hochzeitskleider. Dies wiederum würde einen angemessenen Preis erlauben, den so manches Elternteil sicher auch trotz der Krise zu zahlen bereit war. Außerdem waren Geschenke selbst in schwierigeren Zeiten gefragt, egal ob zur Geburt, zur Taufe, zu Weihnachten oder einfach nur zum Geburtstag.
Lisa erinnerte sich an den Zeitungsartikel, in dem ihre Bekannte die These aufgestellt hatte, dass Verbraucher nicht trotz, sondern wegen magerer Zeiten ihr Geld lieber in Qualität investierten, als einfach blind und billig zu konsumieren.
Der Gedanke an eine Baby- und Kleinkinderkollektion war beflügelnd, und Lisa gab nicht einmal dem Impuls nach, Jutta anzurufen und sie nach ihrer Meinung zu fragen. Stattdessen zeichnete sie wie in Trance und ging ganz und gar in ihren Entwürfen auf.
«Ich will ja nicht stören, aber …»
Als Katja plötzlich hinter ihr stand und sie ansprach, fuhr Lisa mit einem kleinen Aufschrei hoch.
«Hast du mich erschreckt!»
«Sorry, ich wollte dich nur fragen, ob es –» Noch ehe Katja mit ihrem Anliegen fortfuhr, schaute sie beeindruckt auf die vielen Skizzenblätter, die inzwischen überall auf dem riesigen Tisch verteilt lagen. Sie nahm eines zur Hand und sagte mit Bewunderung in der Stimme: «Wow! Das ist ja süß. So würde ich auch gerne zeichnen können.»
«Ach, das kann man lernen», wehrte Lisa das Kompliment etwas peinlich berührt ab.
«Das ist echt voll süß! Ich wusste gar nicht, dass du auch Sachen für Kinder machst.»
«Wusste ich auch nicht», entgegnete Lisa lächelnd.
Katja nahm eine Zeichnung mit einer kleinen Serie langärmeliger Shirts zur Hand. Versonnen blickte sie darauf und sagte: «Erinnert mich ein bisschen an die Pullis von Ernie und Bert. Cool!»
Lisa lachte. Sie sah auf und ergänzte nach einem kurzen Moment: «Vielleicht sollte ich noch Heidi-Sticker draufnähen
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