Was ich dir noch sagen will
geschuldet, dass er Einzelkind und seit seinem vierten Lebensjahr Halbwaise war. Renate hatte ihn mit ihrer Fürsorge beinahe erdrückt und auch Jahrzehnte später nicht damit aufgehört.
Noch heute musste Lisa schmunzeln, wenn sie ihrem Sohn riet, im Winter Wollpullover mit Rollkragen zu tragen, damit er sich nicht erkältete. Eine Zeit lang hatte Lisa versucht, solchen gutgemeinten, aber übergriffigen Bemerkungen mit Humor zu begegnen – auch um die harmonische Stimmung während der ohnehin seltenen Treffen zwischen Mutter und Sohn nicht kippen zu lassen. Doch selbst der augenzwinkernde Hinweis, dass Erik fast 40 Jahre alt und darüber hinaus Arzt von Beruf war, wurde von Renate konsequent überhört.
Mehr noch, Eriks Mutter versuchte sogar, auch Einfluss auf Lisas Angelegenheiten zu nehmen. So riet sie ihr beispielsweise dringend davon ab, sich selbständig zu machen, weil dies in wirtschaftlich schwierigen Zeiten doch viel zu unsicher war. Auch die verspätete Hochzeitsreise nach Afrika, «wo doch überall Leute entführt und ermordet werden», hielt sie für lebensgefährlich – und ahnte bis heute nicht, dass sie damit gar nicht so unrecht hatte.
Auch wenn das Flugzeugunglück nicht auf eine Entführung, sondern auf einen technischen Defekt und mangelnde Wartung der Maschine zurückging, würde Renate sich garantiert nicht umstimmen lassen. Vorsorglich hatte Erik seiner Mutter deshalb die dramatische Geschichte mit dem verpassten Flug verheimlicht und darauf gehofft, dass sie wie sonst auch nicht viel mitbekam von dem, was aktuell durch die Medien ging. Selbst als sie darauf bestand, die Fotos von den Flitterwochen ansehen zu dürfen, ließen sich Lisa und Erik nichts von dem anmerken, was ihnen durch den Kopf ging, wann immer sie mit dieser Reise konfrontiert waren.
Wie gut, dass ich meiner Mutter alles anvertrauen kann, dachte Lisa und schenkte sich noch einen Kaffee nach.
Sicher würde Irene auch zu einem möglichen Enkelkind eine engere Bindung haben als ihre Schwiegermutter. Sie war zwar kaum älter, dennoch schien Renate aus einer ganz anderen Generation zu stammen. Bei ihr hatte alles noch seine Ordnung und konnte in Schwarz oder Weiß unterteilt werden.
Auf der anderen Seite freute Lisa der Gedanke, dass Renate über ein Enkelkind richtig froh sein würde. So lange Zeit schon war ihr Sohn der einzige ihr nahestehende Mensch in ihrem Leben. Und dabei war Erik im Grunde ein Einzelgänger, der nur selten den Kontakt zu seiner Mutter suchte.
Überhaupt war er eigentlich gar kein richtiger Familienmensch, dachte Lisa traurig. Lediglich mit seinen beiden Kumpels, Knuth und Martin, pflegte er regelmäßigen Kontakt, und das meist auch nur, wenn sie zusammen trainierten beziehungsweise zusammen arbeiteten.
Je länger sie über all das nachgrübelte, desto mehr verfestigte sich bei Lisa die Überzeugung, ein eigenes Kind würde auch Erik zu wahrer Erfüllung verhelfen. Vielleicht wäre er dann innerlich nicht mehr so getrieben und müsste nicht mehr jeden Tag Sport machen, um seine Grenzen zu spüren. Mehrfach hatte Erik versucht, es ihr zu erklären. Aber Lisa konnte seine innere Unruhe nur schwer nachvollziehen.
Vielleicht, dachte Lisa weiter, waren auch seine vielen Reisen, die er vor ihrer Beziehung und meist ganz allein unternommen hatte, eine Art Flucht gewesen. Ob er in solchen Extremsituationen bei sich selbst und seinen verborgenen Sehnsüchten angekommen war? Oder waren die Ausbrüche jedes Mal vergeblich gewesen, weil er doch stets von seinen ureigensten Ängsten eingeholt wurde?
Schon Lisas geliebte Großmutter Helene spottete gern, wann immer in der Familie eine Reise anstand. In ihrer typisch ironischen Weise sagte sie dann stets: «Was soll ich denn am anderen Ende der Welt, wenn ich dort derselbe Depp bin wie zu Hause?»
Wie schade es doch war, seufzte Lisa, dass Helene weder Erik noch jemals ihre Urenkel kennengelernt hatte. Sie war gestorben, als Agnes im siebten Monat schwanger war. Aber sie hatte sich zu Lebzeiten nie beschwert. Im Gegenteil. Noch kurz bevor sie mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte sie Lisa zu verstehen gegeben, dass es eben der natürliche Lauf des Lebens sei: Menschen wurden geboren und starben. Sie habe in ihrem Leben bereits sehr häufig mitbekommen, wie ein Leben zu Ende ging, während im engeren Umfeld ein neues entstand. Auch hatte sie sich nie darüber beklagt, die Ankunft ihres Urenkels womöglich nicht
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