Was ich dir noch sagen will
Reiki oder ihre Gebete wirklich etwas gebracht hatten?, fragte Lisa sich ein wenig skeptisch, während sie das Treppenhaus hinunterrannte. Egal, Hauptsache, Erik war wieder bei Bewusstsein.
Schnellen Schrittes lief sie durch die noch sehr kalte Luft zum Auto und nahm sich fest vor, Agnes nach dieser Reiki-Sache zu fragen. Immerhin hatte sich ihre Schwägerin vor ein, zwei Jahren von einer befreundeten Reiki-Meisterin «einweihen» lassen, wie sie es nannte. Anfangs hatte sie bei jedem die Hand aufgelegt, der über ein Wehwehchen klagte, es irgendwann aber wieder sein gelassen, nachdem sie von allen belächelt wurde. Doch nun schämte sich Lisa, Agnes’ gute Absichten nie richtig gewürdigt und auch nie nachgefragt zu haben. Auf einmal interessierte sie sich sehr dafür, ob man Reiki tatsächlich auch über die Ferne senden konnte, wie Renate es erwähnt hatte.
Ach, es gab so unendlich viel im Leben, das sie noch erkunden wollte, dachte Lisa und seufzte. Am liebsten natürlich mit Erik gemeinsam. Vielleicht hatte er ihren Brief mittlerweile entdeckt und ihn sogar schon gelesen, kam es ihr nun in den Sinn. Doch sie verwarf diese Hoffnung sogleich wieder, da sie befürchtete, Knuth könne recht behalten und Eriks Körper seit dem Unfall nur eingeschränkt funktionieren.
Wenn er überhaupt wieder ganz gesund werden würde!
Lisa wusste nicht, was größer war: ihre Freude darüber, dass Erik endlich aus dem Koma aufgewacht war, oder ihre Angst vor dem, was ihnen nun womöglich bevorstand, falls doch mehr von dem Unfall zurückbleiben würde.
Zwanzig quälend lange Minuten musste sich Lisa durch den Verkehr kämpfen, obwohl sie, sooft es ging, ordentlich aufs Gaspedal drückte. Ihre Gebete gingen in beinahe hysterische Mantras über, mit denen sie sich ermahnte, ja nicht selbst noch einen Unfall zu verursachen.
Ungeduldig harrte Lisa wenig später vor der verschlossenen Fahrstuhltür aus. Mehrmals drückte sie hektisch auf die leuchtende Taste, doch es kam und kam kein Aufzug. Also lief sie schließlich entnervt in Richtung Treppenhaus und nahm mehrere Stufen gleichzeitig.
Oben angekommen, war sie völlig außer Atmen und lief prompt dem freundlichen Arzt in die Arme, der sie ein paar Tage zuvor angesprochen hatte.
«Frau Grothe, Sie möchten sicher zu Ihrem Mann», sagte er freundlich. «Sie müssen sich allerdings leider noch einen Augenblick gedulden.»
Abrupt blieb Lisa stehen und blickte ihn entsetzt an. «Aber …», sie stockte und war unfähig, ihren Einwand zu Ende zu formulieren.
«Keine Sorge», erklärte der Arzt. «Er wird gerade noch einmal eingehend untersucht. Ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange.»
«Wie lange?», fragte Lisa angespannt.
«Wir sagen Ihnen Bescheid», erklärte er mit einem Lächeln und deutete auf die Stuhlreihe im Flur. «Möchten Sie nicht solange hier Platz nehmen?» Dann ging er eiligen Schrittes weiter.
«Nicht nötig», murmelte Lisa ihm hinterher.
Ruhig auf einem der Stühle warten? Das würde sie jetzt eh nicht können. Sie tigerte den Gang entlang bis zu Eriks Zimmer.
Zu Lisas Überraschung stand die Tür weit offen. Als sie mit heftig klopfendem Herzen hineinblickte, fuhr ihr ein großer Schrecken in die Glieder. Das Zimmer war leer. Offenbar hatte man Erik zur Untersuchung woanders hingebracht.
Unsicher schaute sie sich um, weil sie nicht wusste, ob sie trotzdem einfach hineingehen durfte. Schließlich trat sie ein und sah sich in dem Raum um, dessen bedrückende Atmosphäre über Nacht eine spürbar angenehmere geworden war. Das Licht und die Luft wirkten viel frischer und freundlicher. Wie ein verrammeltes Ferienhaus, in das nach einem langen Winter wieder das bunte Leben einzieht.
Nur noch wenige Augenblicke, und dann würde sie Erik endlich wieder in die Augen blicken, seine Hand halten und hoffentlich auch seine Stimme hören können!
Unruhig lief Lisa im Zimmer auf und ab. Immer wieder steckte sie ihren Kopf zur offenen Tür hinaus und hielt Ausschau nach dem Arzt oder aber nach Prof. Weiländer, der endlich ihre vielen quälenden Fragen nach Eriks Gesundheit beantworten würde.
Lisa trat ans Fenster und blickte hinaus. In den Bäumen konnte sie ein paar Vögel ausmachen, die fröhlich in der Luft tanzten. Versonnen drehte sie an ihrem Ehering. Dann wanderte ihr Blick zu einer riesigen Eiche, deren kahle Baumkrone einen schönen Kontrast zum Himmel bildete, der mittlerweile ein morgendlich helles Winterblau zeigte.
Obwohl Lisa dieser Anblick
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