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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Unter dem frischen Schnee lagen Wälle aus altem Schnee, hart und grau. Bänder aus Hundeurin liefen entlang der freigeschaufelten Wege daran herunter. Stump Troys Auffahrt wurde stets vom Schneepflug freigehalten, und für wen wohl, fragte Robina. Sie fragte meistens in einem Tonfall, der die Antwort schon kannte. Ich trug ein Messer mit mir herum, ein aus Robinas Küche gestohlenes Schälmesser. Ich zog meinen Fäustling aus, um es in meiner Tasche zu berühren. Verborgen von den Schneebergen, in der Auffahrt seines Vaters, ein, zwei Mal jede Woche, ich wusste nie, wann, wartete Howard Troy auf mich. Er trat heraus, als wollte er vor mir hergehen, mir den schmalen Weg verstellen.
    Ficken.
    Du willst ficken.
    Ich ging mit gesenktem Kopf und angehaltenem Atem an ihm vorbei, geradeso wie jemand, der durch eine Wand aus Feuer geht. Es war wichtig, ihn nicht anzuschauen, nicht schneller zu laufen und die Klinge zu spüren. Ich dachte nie, er würde mir hinterherkommen. Wenn er sich nicht sofort bewegte, würde er sich gar nicht bewegen. Die Gefahr lag in der Aura des Wortes.
    All das ist jetzt kaum noch zu verstehen. Ich höre Kinder dieses Wort lässig aussprechen, während sie auf Fahrrädern vorbeifahren. Ich höre es aus dem Mund eines Vaters, der sich über den in der Auffahrt vergessenen Rasenmäher ärgert. Es war damals ein Wort, das einem entgegengeschleudert werden konnte, das einem den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. Demütigung stand bevor, war vielleicht schon da, wenn man es hörte, es hören und sich eingestehen musste. Scham konnte einen ersticken. Das meine ich wörtlich. Nicht in dem Augenblick, wo es nur darauf ankam, sicher vorbeizukommen, aber später, was für Mengen schmieriger Scham, was für unverdauliche böse Geheimnisse. Die Verletzlichkeit, die selbst zum Schämen ist. Wir sind schamhaft beschaffen.
    Ich hätte nie jemandem etwas davon gesagt, nie jemanden um Hilfe gebeten. Ich hätte lieber jede Gefahr auf mich genommen, jede Gewaltsamkeit oder äußerste Demütigung riskiert, als dass ich wiederholt oder zugegeben hätte, was zu mir gesagt worden war. In meinen Augen war das völlig außerhalb aller Hilfe, aller Autorität. Ich glaubte natürlich, dass dies nur zu mir gesagt werden konnte, dass Howard Troy genau wusste, wie er mich bedrohen konnte, dass es ein Zeichen war. Und darum musste es verborgen und ausgelöscht werden, ausgetreten, schnell, schnell, aber ich schaffte nie, alles davon zu erwischen, alles Wissen, alle Erinnerung, unterirdisch lief es weiter und sprudelte an einer anderen Stelle in meinem Kopf hervor.

    Robina nahm mich oft mit zu ihr nach Hause. Wir gingen durch den Wald, hinter dem Gelände, wo jetzt der Flughafen ist, eine Meile oder vielleicht anderthalb Meilen weit zu der kleinen Farm mit Steinhaufen mitten auf den Feldern. Wir nahmen auch im Winter diesen Weg, und Robina zeigte mir Spuren, die, so sagte sie, von Wölfen stammten. Sie wusste von einem Fall, wo ein Baby in einen Schlitten gelegt worden war, den ein Hund zog, und der Hund hatte Wölfe im Wald heulen hören und war losgelaufen, um sich ihnen anzuschließen, mit dem Baby immer noch hintendran. Dann, als der Hund dahin kam, wo die Wölfe waren, verwandelte er sich auch in einen Wolf, und alle zusammen zerrten sie das Baby heraus und fraßen es.
    Beim Gehen durch den Wald gewann Robina an Autorität oder nahm eine andere Art von Autorität an, als sie in der Küche meiner Mutter hatte, wo sie unter der unzulänglichen und irreführenden Bezeichnung Dienstmädchen waltete. Ihr großer, flacher Körper schien sich zu lockern, hin und her zu schwingen wie eine Tür in ihren Angeln, kontrolliert, aber gefährlich, wenn man in den Weg geriet. Sie war zu der Zeit vielleicht zwanzig Jahre alt, kam mir aber so alt vor wie meine Mutter, so alt wie die mächtigen älteren Lehrer, wie die Damen, die Geschäfte führten. Ihre Haare waren kurz geschnitten, dunkel, glatt über die Stirn gezogen und von einer Haarklammer festgehalten. Sie roch nach Küche und getrocknetem, verschwitztem Stoff. Sie hatte etwas Rußiges, Rauchiges an sich – an ihrer Haut und ihren Haaren und ihren Kleidern und ihrem Eigengeruch. Gegen all das schien nichts einzuwenden zu sein. Wer würde etwas gegen Robina einwenden, wer wäre so tollkühn?
    Wir mussten eine Brücke überqueren, die aus nichts weiter als drei Baumstämmen in unregelmäßigen Abständen bestand. Robina schwang die ausgestreckten Arme, um das Gleichgewicht

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