Was im Dunkeln liegt
nicht stimmt, aber ich belasse es dabei.
»Unterrichten Sie noch?«
»Nein, nach dem Tod meiner Mutter bin ich in den Vorruhestand gegangen.«
Sie neigt den Kopf ein wenig, eine Geste, mit der sehr alte Menschen eine Todesnachricht würdigen. »Und Ihr Vater?«
»Der ist schon vor einigen Jahren gestorben.«
Ein weiteres Nicken in Anerkennung des Unvermeidlichen. Eine Pause tritt ein, in der sie ihre Kräfte für einen weiteren Vorstoß sammelt, und so fülle ich die Lücke, indem ich ihr von meinem Bruder und dessen Familie erzähle; erwähne im Nachhinein, dass meine Schwester zweimal geschieden wurde. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob sie meine Geschwister jemals kennengelernt
hat. Ich glaube, sie waren bei Dannys Bestattung dabei – eine andere Verbindung gibt es nicht; doch sie ist sichtlich dankbar für meine Bemühung, die Last der Konversation auf mich zu nehmen.
Als ich in Schweigen verfalle, sagt sie: »Sie haben nie geheiratet.«
»Nein.«
»Gab es jemals einen anderen? Haben Sie nach Danny niemanden mehr gefunden?«
»Es gab einen Mann – jemand, den ich später kennenlernte –, aber es war nicht möglich.« Meine Offenheit überrascht mich selbst. Ich erzähle Mrs Ivanisovic etwas, das ich bisher noch niemandem anvertraut habe.
Verstehend neigt sie den Kopf. »Sie waren seine große Liebe«, sagt sie. Es ist nicht mehr als ein Wispern, ihre Stimme nicht lauter als Rosenblütenblätter, die auf feuchte Erde fallen. »Er hätte Sie geheiratet. Sie wären meine Tochter gewesen.«
Ich antworte nicht – kann sie nicht ansehen. Stattdessen blicke ich aus dem Fenster, über die ausgedehnte Rasenfläche hinweg zu der Stelle, wo eine weit entfernte Gestalt sich unendlich langsam über die Zufahrtsstraße bewegt. Ich erkenne, dass es dieselbe gebeugte alte Dame ist, die ich schon bei meiner Ankunft gesehen habe. Alles bewegt sich langsam in Broadoaks. Das leise Ticken des Nachttischweckers verkündet die Sekunden in einem verhalteneren Tempo als in der Außenwelt.
»Hat man Ihnen Tee angeboten?«, fragt sie und drückt auf mein Kopfschütteln hin den Summer, der eine Schwester in Schwesterntracht herbeiruft. »Wir hätten gern eine Tasse Tee«, sagt Mrs Ivanisovic, während ich mich frage, ob die Schwester nicht insgeheim denkt, sie
habe Besseres zu tun, als Mrs Ivanisovic und ihrem Gast Tee zu servieren.
Nachdem die Schwester gegangen ist, tritt abermals Stille ein. Ich überlege, was ich sagen könnte, um das Schweigen zu brechen. Alberne Fragen fallen mir ein. Ist das Personal freundlich? Wie viele Angestellte braucht man, um das Gelände in Schuss zu halten? Lauter unglaublich dumme und unwichtige Fragen. Mrs. Ivanisovic hat ihre Sauerstoffmaske übergezogen und atmet hinein. Der Anblick berührt mich seltsam peinlich – beinahe als hätte ich sie in Unterwäsche angetroffen –, und so wende ich den Blick ab und betrachte den restlichen Teil ihres Zimmers, der bisher hinter meiner linken Schulter verborgen war.
Da ist ein zweiter Lehnstuhl – das gleiche klobige Modell wie das, das ich okkupiert habe; ein runder Tisch mit einer mit Blumen gefüllten Vase darauf, ein Schrank und ein Fernsehgerät, das auf der Sideboardkonstruktion steht, die an der Wand gegenüber dem Fenster verläuft. Der Fernseher wird von verschiedenen gerahmten Fotos flankiert – das von Danny ist deutlich sichtbar platziert. Ich stehe auf und gehe zum Sideboard hinüber, um einen besseren Blick darauf zu haben, und realisiere mit Erschrecken, dass ich das Hemd kenne, das er anhat. Es ist aus indischer Baumwolle mit schmalen, blassen Streifen in Gelb, Blau und Weiß. Ich war an dem Tag dabei, als er es im Oasis gekauft hat. Angestrengt konzentriere ich mich nun darauf, weil es plötzlich sehr wichtig geworden ist. Besagter Einkaufstrip hatte wenige Tage vor unserer Reise nach Hereford stattgefunden – wann wurde diese Aufnahme also gemacht? Ich studiere den Bildhintergrund. Das Foto wurde im Freien gemacht – Kopf und
Schultern, Danny vor irgendeinem blühenden Strauch. Niemand von uns hatte in Hereford eine Kamera dabei. Hat Mrs Ivanisovic eine mitgebracht, als sie uns an jenem Tag besuchte?
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, beantwortet sie meine Frage. »Das ist das letzte Foto, das wir von ihm gemacht haben. Es wurde in unserem Garten aufgenommen, kurz bevor er mit Ihnen und Simon in die Sommerferien gefahren ist.« Sie hält inne; das Sprechen hat ihre
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