Was im Dunkeln liegt
uns waren. Wir vernichteten alle Fotos, beseitigten Kinderbett und Kinderwagen; gaben die Kleidung an die Missionsstiftung – und es funktionierte. Nach einigen Monaten fragte Danny nicht mehr nach Stephen. Und nach ungefähr einem Jahr erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, dass es Stephen überhaupt gegeben hatte.«
»Und Sie?«, frage ich. »Was ist mit Ihnen?«
»Ich hatte kein Recht auf Erinnerungen«, sagt sie. »Und außerdem mussten wir an Danny denken.«
Und wo bleibt Stephen?, hätte ich beinahe eingeworfen. Mich gruselt die Vorstellung, dass die Identität eines Kindes zum Wohle eines anderen Kindes einfach ausgelöscht wird. Dieses früh verstorbene Menschenkind, dessen Fotos man vernichtet, dessen bloße Existenz man negiert hatte: dem Wohlergehen des älteren Bruders geopfert.
Dann stelle ich mir ihre eigenen Qualen vor – eine Sekunde der Unachtsamkeit, die lebenslange Reue zur
Folge hat, all die stumm begangenen Geburtstage dieses anderen Kindes, des verlorenen Kindes, über das niemals gesprochen wurde. Das von Schuld beladene Wissen, das wie ein Eisklumpen in ihrem Herzen ruht. Ich hatte sie damals für eine überfürsorgliche, allzu nachgiebige Mutter gehalten – doch erst jetzt verstehe ich das ganze Ausmaß. Sie hat eine Festung aus Geheimnissen errichtet, um ihren überlebenden Sohn zu schützen, und sich dann freiwillig in das Elend gefügt, darin gefangen zu sein, die Last der unausgesprochenen Wahrheit allein zu tragen.
Ich merke, dass sie kurz davor ist, wieder einzudösen. Jetzt oder nie, beschließe ich. »Sie sagten, Sie würden irgendetwas wissen – etwas über Dannys Tod, das Sie bei der gerichtlichen Untersuchung nicht erwähnt haben.«
»Als Danny im Krankenhaus lag – nachdem es passiert war –, saß ich Stunde um Stunde an seinem Bett und hielt seine Hand. Manchmal wunderte ich mich, warum Sie nie zu Besuch kamen – aber die Ärzte meinten, Sie seien ebenfalls krank … stünden unter Schock.« Sie wartet auf eine Bestätigung, doch ich möchte, dass sie fortfährt. Ich fürchte, jede Ablenkung könnte sich nun, da ich endlich meinen ganzen Mut zusammengenommen und dieses Thema angesprochen habe, als verhängnisvoll für ihre Bereitschaft erweisen, sich mir anzuvertrauen, oder für meine Bereitschaft, sie anzuhören. Als ihr klar wird, dass sie vergeblich auf eine Antwort von mir wartet, fährt sie fort: »Ich hielt seine Hand und redete mit ihm. Die Ärzte meinten, dies sei womöglich hilfreich, und so redete ich unentwegt. Ich flehte ihn an, zu uns zurückzukommen … bat ihn zu leben.« Die nun folgende Pause ist unerträglich lang, aber ich bin entschlossen, sie nicht zu brechen. »Eines Nachmittags fiel mir auf, dass er reagierte,
meine Hand als Antwort auf Fragen drückte. Die Schwestern meinten, es sei lediglich ein Reflex, doch ich wusste es besser. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Stan mir glaubte, aber Danny und ich standen uns so nah – wenn jemand überhaupt zu ihm hindurchdringen konnte, dann ich.«
Ihre Lider fallen zu. Sie versucht, sie offen zu halten, doch das ist ein verlorener Kampf.
»Die Medikamente«, flüstert sie. »Entschuldigen Sie.«
»Das ist in Ordnung. Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Ich flüstere ebenfalls. Ich weiß nicht, warum.
»Besuchen Sie mich noch einmal«, keucht sie. »Heute in einer Woche.«
Das ist verrückt – ich wohne gute zweihundert Meilen entfernt. Ich sage mir, dass ich von ihr nichts zu befürchten habe. Ich werde diese Fantasie-Kommunikation an Dannys Krankenbett doch gewiss nicht ernst nehmen. Das ist nicht weit entfernt vom Tischerücken. Ist es die Zeitbombe des Wissens, über das sie verfügt – diese schwache Möglichkeit, sie werde einen ihrer nicht existenten Besucher fragen: »Mich würde interessieren, was mit Simons Freundin, dieser Trudie, passiert ist.« Oder ist es etwas anderes, das mich antworten lässt: »Okay. Heute in einer Woche.«
18
Ich hatte fest vor, Danny wegen der Bemerkung seiner Mutter sofort zur Rede zu stellen – doch Simon kam mir zuvor. Kaum war der Wolseley außer Sicht, berichtete er Danny von einem Bauarbeiter in Kington, dem man unerwartet einen Auftrag abgesagt hatte, sodass er übermorgen zu uns kommen könnte, um den Teich zu betonieren. Der Mann habe ihm seinen Preis genannt, den sie mit einem Handschlag besiegelt hätten. »Wenn wir uns ins Zeug legen«, sagte Simon, »sind wir, bis er kommt, mit der
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