Was im Leben zählt
weiß nicht, was er mit der Frage bezweckt, und wünschte, ich könnte ein paar Zentimeter weiter zurückweichen. Habe ich in letzter Zeit wieder jemanden aufgenommen? Meinen Ehemann jedenfalls nicht, der soll es bloß wagen, seinen Hintern noch mal in diese Stadt zu schwingen.
«Fotos», sagt er lachend und deutet mit dem Zeigefinger auf seine Nikon. «Hast du in letzter Zeit Fotos gemacht?»
«Oh, nein!» Mein Leben ist eine Klippe runtergestürzt, und das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn steht, ist, Fotos zu machen. Und schon gar nicht steht mir der Sinn nach den Geschichten, die diese Fotos mir, und zwar nur mir, offenbaren .
«Hier.» Er zieht sich den Tragegurt über den Kopf, packt meine Hand und legt die Kamera hinein. «Du bist dran.»
«Nein danke.» Ich gebe ihm das Gerät zurück.
«Nö!» Er schüttelt den Kopf. «Die gehört heute dir. Ich brauche sie nicht. Du schon.»
Ich schiebe das Kinn vor, um zu protestieren: Ich will niemanden, der sich um mich kümmert, Eli Matthews! , aber ehe ich ihm das klarmachen kann, geht er einen Schritt zurück, an seinen Schülern vorbei, und steigt die Stufen hinunter.
«Dein Auftrag lautet folgendermaßen», ruft er zu mir hoch. «Ich möchte eine Dokumentation über die Blutspendeaktion, dazu Schnappschüsse vom Schulgelände. Nächsten Freitag liegen die Bilder bitte auf meinem Schreibtisch.»
Die Tür schwingt zu. Seine beiden Reporter stehen da wie begossene Pudel, beäugen mich unsicher und fragen sich, was zum Teufel das gerade sollte. Die Blicke, die sie wechseln, sprechen Bände. Sie machen sich ihren ganz eigenen Reim auf das, was da eben zwischen dem Aushilfslehrer für Kunst und der Beratungslehrerin lief, die aussieht, als hätte sie drei Wochen lang nicht geschlafen (hat sie nicht), seit einem Monat kein Gemüse mehr gegessen (dito) und stünde kurz vor einem Nervenzusammenbruch (mehr als wahrscheinlich).
Ich bin zu müde, um hinter ihm herzurennen und ihm den Kopf zurechtzurücken, obwohl ich das eigentlich tun müsste, vor allem, weil heute der Todestag meiner Mutter ist, die nie wollte, dass ich klein beigebe oder so leicht zurückstecke, wie ich es eben getan habe. Viel zu leicht. Auch wenn ich heute Morgen beschlossen habe, mich zusammenzureißen. Morgen vielleicht. Ja, vielleicht morgen. Aber heute lasse ich mich nur auf den endlich freigewordenen Stuhl sinken und warte, bis ich dran bin. Dann kommt die Schwester zu mir rüber, sagt mir, ich soll mich zurücklehnen und entspannen. Nur ein winziger Piks, mehr sei nicht zu spüren, versichert sie mir, also mache ich die Augen zu und lasse mich noch leerer saugen, als ich es sowieso schon bin.
Drei Tage später wird Susanna dreiunddreißig, und wir versammeln uns bei ihr zu Hause zu einem Mitbringessen, sobald die Zwillinge im Bett sind. Darcy ist ebenfalls mit von der Partie, und ich habe Ashley angerufen, um zu fragen, ob sie ebenfalls kommen möchte, weil ich keine Lust mehr auf all das unangebrachte, überhebliche Mitgefühl habe, auf das Getuschel beim Einkaufen, diese Ach-die-arme-Tilly-Farmer- Seitenblicke, als würde meine ganze Existenz einzig und allein von meinem Ehemann abhängen. Obwohl es, seien wir ehrlich, den Großteil meiner Existenz lang genau so gewesen ist.
Ich habe Ashley zu Susannas Geburtstag eingeladen, weil ich von ihr mit Sicherheit kein Mitleid zu erwarten habe. Und weil sie die Einzige ist, die mein Geheimnis kennt: dass ich Dinge sehe, wenn ich es inzwischen auch nicht mehr drauf anlege. Gut, sie ist diejenige, die mir das angetan hat, aber es ist nun mal passiert, und ein Teil von mir ist ihr dankbar, für ihr Ohr und ihre Zuversicht.
Ashley kommt mit einer Schachtel Dunkin’ Donuts, mehr sei nicht drin gewesen, sagt sie, ihre Mutter hatte einen schlimmen Anfall. Mit Ashleys Mom geht es zu Ende. Sie hat es mir vor zwei Wochen erzählt, als sie überraschend bei mir vorbeischaute, um sich zu vergewissern, dass ich mir nicht in der Badewanne die Pulsadern aufschneide. An dem Tag hatte ich mich früher aus der Schule nach Hause geschleppt, den leeren Anrufbeantworter angestarrt, mich schweren Herzens gegen den Griff zur Flasche entschieden und mich stattdessen auf den Küchenboden gelegt und die Decke angeschaut. Und so fand Ashley mich vierzig Minuten später.
«Meine Mutter stirbt», hat sie mir an dem Abend erzählt, ein Versuch, mich per Schock aus meiner Starre zu reißen, mich sprichwörtlich an den Schultern zu packen und zu sagen: Dein Ehemann ist
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