Was ist Demokratie
weniger von der athenischen Demokratie, auch nur gelegentlich von der römischen Republik â sondern von einer «eigenen» freien Vergangenheit, die gegen den modernen Territorialstaat und die absolute Monarchie in Stellung gebracht wurde: von den Städten des späten Mittelalters und von einer diffusen germanischen Frühzeit. In typischer Weise beschwor Friedrich Daniel Bassermann aus Mannheim, später einflussreicher Abgeordneter in der Paulskirche, 1843 eine vermeintliche Urdemokratie der germanischen Vorfahren: «Sie waren nicht bevormundet von Leuten, die sie nicht wollten, nein, unter freiem Himmel, in groÃen Volksversammlungen wählten sie ihre Anführer, unter freiem Himmel hielt das Volk Gericht und gegen seinen Willen konnte nichts geschehen.»
Dabei mochten sich Bilder der athenischen Volksversammlung und Volksgerichte mit dem Entwurf einer germanisch-deutschen Nationalgeschichte vermischen. Im Zeichen von Romantik und Historismus bildete sich daraus eine einflussreiche Spur deutscher Freiheitsvorstellungen, die bis in das 20. Jahrhundert führt. In der Zeit der Reichsgründung entwickelte der liberale Staatsrechtler Otto von Gierke mit seinem «Genossenschaftsrecht» ein umfassendes Modell staatlicher Organisation und sozialer Beziehungen, mit dem sich Deutschland vom Westen, zumal von Frankreich, unterscheiden sollte. Seine «germanistische» stand gegen die «romanistische» Rechtsschule, damit gegen das römische Recht, und insofern auch gegen die römisch-antiken Traditionen. Aus der germanischen Vorgeschichte in Mitteleuropa leitete man den Vorrang genossenschaftlicher Verbände gegenüber herrschaftlichen Verbänden ab, den Vorrang horizontaler Vergemeinschaftung und «organischer» Gesellschaft. Tatsächlich entfaltete der Genossenschaftsgedanke in dieser Zeit eine erhebliche demokratische Wirkung, in der Arbeiterbewegung und im sozialen Liberalismus: praktisch umgesetzt in der Raiffeisen-Bewegung, in Konsum- oder Wohnungsgenossenschaften. Aber er enthielt zugleich eine Spitze gegen den Individualismus und zunehmend auch gegen die westliche Demokratie, und darauf konnte sich später die völkische Ideologie der Nationalsozialisten gut berufen.
Deshalb kann man sagen: Die heute so häufigen Hinweise auf antike Ursprünge der Demokratie, vor allem auf das klassische Athen, sind keine Restbestände einer vielhundertjährigen Tradition, die im 20. Jahrhundert, im Zeitalter moderner Demokratie, allmählich aussterben. Vielmehr hat sich das politische Leitbild «Athen», trotz der bildungsbürgerlich-neuhumanistischen Kulturprägung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, überhaupt erst nach 1945 vollends etabliert, zumal in der Bundesrepublik Deutschland, im Zuge ihrer eigenen Demokratisierung. In der Schule lernen die Fünftklässler die Grundzüge der athenischen Demokratie, noch bevor sie so recht mit Französischer Revolution oder den Grundzügen des eigenen Regierungssystems vertraut sind. Dabei dient die Antike jedoch keineswegs nur als eine heroische Bestätigung der eigenen Gegenwart, als selbstzufriedene Vergewisserung einer westlichen Kontinuität über 3000 Jahre, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Vielmehr beruft sich seit den 1970er Jahren gerade die Kritik an der modernen, repräsentativen Demokratie immer wieder auf die unmittelbare Demokratie Athens. Der amerikanisch-britische Althistoriker Moses Finley, ein undogmatischer Neomarxist, sah die «elitäre» Demokratie einer modernen, politisch-bürokratischen Klasse als Verfall gegenüber der breiten Bürgerbeteiligung Athens. Auch hinter dem Kampf von Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen für mehr direkte Demokratie steht bis heute häufig das antike Vorbild.
Entscheidend ist also gar nicht, ob die athenische Demokratie, oder auch die Verfassung der römischen Republik, als ein direkter Vorläufer der modernen Demokratien gelten kann. Zwar lassen sich gute Gründe dafür anführen, dass es sich nicht bloà um eine zufällige Namensgleichheit handelt: Wichtige Prinzipien der Demokratie sind im Athen des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. zum ersten Mal â soweit wir wissen â in Verfahren gegossen und praktisch erprobt worden. Aber eine gerade Linie führt keineswegs von dort in die Gegenwart. Athen war nicht der «Westen», sondern eine Kultur des östlichen
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