Was ist Demokratie
Spektrum zu integrieren, ländliche und städtische Bevölkerung; Bauern, Bürger und Arbeiter. Die bevorzugte Protestform war, wie in den 1840er Jahren, die «Volksversammlung». Die Forderungen richteten sich auf eine Reform der kantonalen Verfassungen durch direkt-demokratische Elemente. Dazu zählten ältere Wünsche nach gröÃerer Unabhängigkeit der Gemeinden oder nach demokratischer Justiz, nach einer Volkswahl der Richter. Mehr und mehr rückten aber das Referendum und die Initiative in den Mittelpunkt des demokratischen Begehrens: Wesentliche Entscheidungen sollten nicht im Parlament, sondern in direkter Volksabstimmung getroffen werden; und die Bürger sollten selber Gesetzesinitiativen bzw. Initiativen zur Verfassungsänderung auf den Weg bringen können. Nachdem bis Ende der 1860er Jahre viele Kantone ihre Verfassungen unter dem Druck der demokratischen Bewegung geändert hatten, ging auch der Bundesstaat 1874 zur Referendumsdemokratie über.
In vielen weiteren Etappen, die hier nicht nachzuzeichnen sind, wurde die direkte Demokratie weiter ausgebaut, und auch nach 1945 führte der Weg der Schweiz in eine andere Richtung als im übrigen Westeuropa. Während die Amerikaner für ihr Konzept einer pluralistischen, parlamentarischen Konkurrenzdemokratie warben, gingen die Schweizer 1959 zur «Konkordanz» über; nach einer festen «Zauberformel»verteilten sie seitdem, und unverändert bis 2003, die Ãmter im Bundesrat (der nationalen Regierung) an die Parteien, also gegen das Prinzip von Regierung und Opposition. Auf der anderen Seite wuchs der internationale Druck, sich allgemein anerkannten Rechten und Verfahrensregeln nicht länger zu entziehen. Das galt besonders für das Frauenstimmrecht, aber auch für die offenen, also nicht geheimen Wahlen und Abstimmungen in den Versammlungen unter freiem Himmel, den kommunalen Gemeindeversammlungen und den kantonalen Landsgemeinden: Verletzten sie das demokratische Grundrecht auf geheime Wahl? Oder kam in ihnen nur ein anderes Verständnis von Demokratie zum Ausdruck, demzufolge die Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen so öffentlich und einsehbar treffen wie die Abgeordneten in Parlamenten, in denen ja in der Regel ebenfalls offen abgestimmt wird? Muss Demokratie sich zuerst an einem Universalismus des Individuums und seiner Grundrechte bemessen, oder lässt sich Freiheit auch in der Moderne ein Stück weit kommunal und föderalistisch «buchstabieren»?
So stöÃt man noch einmal auf das komplizierte Verhältnis von Tradition und Innovation in der Schweizer Demokratie. Denn die Beschwörung ihrer vielhundertjährigen, scheinbar kaum gebrochenen Geschichte ist weithin eine «Erfindung von Tradition». Aber die kulturell-politischen Voraussetzungen einer europäischen Sonderentwicklung seit dem späten Mittelalter â das Fehlen der Monarchie, die kommunale Solidarität, die Entscheidungsfindung unter Anwesenden â reichen dennoch unverkennbar bis in die Gegenwart hinein.
8 Aufbrüche und Grenzen:
Die Aufklärung
Um 1800 begann eine neue Ãra der Weltgeschichte. Das sahen schon viele Zeitgenossen so, auch wenn sie die Zukunft bestenfalls erahnen konnten; das bestätigt die Geschichtswissenschaft bis heute immer wieder. «Moderne» Zeiten brachen an, gegenüber denen das Mittelalter und die Frühe Neuzeit gemeinsam alt und rückständig wirkten. Die Französische Revolution wirkte als ein markantes Fanal dieses Umbruchs, und mit der napoleonischen Herrschaft war klar, dass es sich dabei nicht um einen «Betriebsunfall» der Geschichte handelte â kein Weg führte mehr in das «Ancien Régime» zurück.
Der revolutionäre Umbruch hatte sich im vorangegangenen Jahrhundert langsam vorbereitet. Das späte 17., dann vor allem das 18. Jahrhundert war eine Zeit der vielfältigen Dynamik in der europäischen Geschichte. Nach Kriegen und Krisen, vom DreiÃigjährigen Krieg bis zur «Kleinen Eiszeit» des 17. Jahrhunderts, prosperierte die Wirtschaft, Ernährung und Lebenssituation verbesserten sich nachhaltig, die Bevölkerung wuchs. Neben die herkömmlichen Bereiche der ländlichen Agrarwirtschaft und des städtischen Gewerbes und Handels traten neue Formen der gewerblichen Produktion, in der Manufaktur oder in der ländlichen Heimindustrie. Märkte und kommerzielle Beziehungen
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