Was ist Demokratie
kaum vorstellbar. Traditionen galten nicht mehr, Könige verloren ihren Kopf. Die Sehnsucht nach Neuheit und nach Freiheit verknüpfte sich mit dem Anspruch, Gesellschaft und Politik nach eigenen MaÃstäben zu entwerfen: Politische Herrschaft war Menschenwerk. Und schon im 18. Jahrhundert war klar, dass demokratische Prinzipien die sozialen Beziehungen und das Alltagsleben nicht unberührt lassen konnten; sie endeten nicht in einem politischen Institutionengefüge. Im 19. Jahrhundert beschleunigte sich demokratische Entwicklung auch in Deutschland in einer Revolution. Selbst wenn es immer wieder stille, evolutionäre Wege der Demokratisierung gibt â die enge Verbindung mit revolutionären Ereignissen bleibt bis in die Gegenwart erhalten. Auf die globale Erweiterung folgte 1989 die Rückkehr in die Mitte Europas, und das frühe 21. Jahrhundert schreibt diese Geschichte weiter.
Â
1 Revolution und Demokratie
Demokratie und Revolution sind Geschwister. Das späte 18. Jahrhundert war ein «Zeitalter der demokratischen Revolution» (R.R. Palmer): In der Amerikanischen und Französischen Revolution brachen sich demokratische Prinzipien, auf beiden Seiten des Atlantiks, auf ganz neue Weise Bahn. Aber der Zusammenhang ist komplizierter, als man lange annahm. Weder in den ehemaligen britischen Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste noch in Frankreich entstand bis 1800 eine moderne Demokratie; sie war zunächst sogar kaum ein Ziel der Revolutionäre. Es ging um Kritik der Monarchie, um die Vertretung des «dritten Standes» und des Volkes, um Steuerbewilligungsrechte; auchum individuelle Freiheiten wie die des Eigentums, der Meinung, der Religionsausübung. Und doch ist in diesen Forderungen auf Anhieb ein Programm erkennbar, das bis heute zu den unverzichtbaren Bestandteilen von Demokratie gehört, auch wenn die Zeitgenossen am Ende des 18. Jahrhunderts noch eher nach einer «Mitregierung» als nach einer «Selbstregierung» strebten, oder eine Republik ohne volle Gleichheit, zumal in den Wahlrechten, entwarfen. Auch wenn man noch so sehr die Grenzen der Amerikanischen und Französischen Revolution betont, bleibt richtig: Ohne sie ist die Entstehung der modernen Demokratie kaum vorstellbar.
Das liegt nicht nur an den Forderungen, die damals erhoben wurden, und an den Institutionen, wie zum Beispiel Parlamenten und Verfassungen, die so entstanden. «Demokratisch» waren diese Revolutionen auch, weil sie einfache Menschen â Handwerker, Bauern, kleine Kaufleute; Männer und Frauen â auf nie dagewesene Weise mobilisierten und in den Protest gegen lange Zeit nicht in Frage gestellte Autorität führten. Demokratisch war der bisweilen äuÃerst radikale Anspruch auf «Freiheit» ebenso wie auf «Gleichheit». Auch wenn die Einlösung noch in weiter Ferne lag, war damit ein neuer MaÃstab gesetzt, der teilweise bis heute als Messlatte gilt: für Menschen unter Diktaturen ebenso wie für die Kritik unzureichender Demokratie. Demokratisch war schlieÃlich der damals geradezu unerhörte Anspruch, gegen alle Tradition eine ganz neue Ordnung zu schaffen, mit der Revolution gewissermaÃen ein neues Kapitel der Geschichtsbücher aufzuschlagen. Das stand den Menschen des späten 18. Jahrhunderts bereits sehr klar vor Augen; es machte sie euphorisch und verunsicherte sie zugleich.
Denn das Neue der Demokratie und Republik war riskant â man konnte sich nicht mehr auf Tradition und Gottesgnadentum der Herrschaft berufen, sondern brauchte Menschen, deren Tugenden als demokratische Bürger unsicher waren. Insofern liegt in den «klassischen» Revolutionen, wie sie oft genannt werden, eine Wurzel des heutigen Verständnisses von Demokratie als einer «fehlbaren», einer nicht perfekten, einer schwachen Herrschaftsordnung. Man hat auch die athenische Demokratie als eine «Revolution» der Weltgeschichte bezeichnet (Christian Meier): nicht, weil sie mit revolutionären Mitteln, etwa durch einen Volksaufstand, etabliert wurde. Sondern deshalb, weil ihr auf ähnliche Weise ein Bewusstsein von Neuheit, und von einer riskanten, menschengemachten Ordnung zugrunde lag. Natürlich auch deshalb, weil sie eine tiefe Zäsur markierte. Auch in diesem übertragenenSinne â revolutionär als «Epoche machend» â zieht sich die Verschwisterung von Demokratie und Revolution über
Weitere Kostenlose Bücher