Was ist Demokratie
existentieller Not und extremer Armut in vielen Teilen der Welt eine vorpolitische Humanität des würdevollen (Ãber-)Lebens mindestens praktisch wichtiger geworden: Wasser, Nahrung, ein Dach über dem Kopf, minimale medizinische Versorgung, Schutz vor marodierenden Soldaten â das verbindet sich heute eher mit Menschenrechten als vor 200 Jahren. Zweitens ist der Demokratieanspruch der Menschenrechte aber auch prinzipiell umstritten. Wie bis 1990 im kommunistischen Osteuropa, gilt er heute in der Volksrepublik China oder im Iran als Ausdruck eines spezifisch westlichen, vor allem amerikanisch dominierten Lebensmodells, dem andere Kulturen nicht unbedingt folgen sollten. Deshalb betonen auch Menschenrechtsorganisationen häufig zunächst jene allgemeinen Rechte und Freiheiten, über die sich schneller ein universeller Konsens herstellen lässt, wie etwa den Schutz vor willkürlicher Verhaftung. Aber schon bei der Meinungs- oder Pressefreiheit zeigt sich, dass eine saubere Trennung in vorpolitische Menschenrechte und politische Bürgerrechte genau wie im 18. Jahrhundert kaum möglich ist. Freilich hat sich auch die Demokratie selber gewandelt, und die Menschenrechtspolitik ist dafür ein wichtiger Schauplatz: mit der führenden Rolle von Nichtregierungsorganisationen in der Interessenvertretung ebenso wie mit der prominenten Funktion von Gerichten, vor denen einzelne Bürger ihre Rechte einklagen.
9 Verfassung:
Aufgeschriebene Demokratie
In Deutschland hat man sich angewöhnt, wie in vielen anderen Ländern, unter einer Verfassung ein besonders herausgehobenes schriftliches Dokument zu verstehen, das als eine Art Fundamentalgesetz die politische Ordnung definiert, einzelnen Institutionen wie dem Parlament ihre Befugnisse zuweist, oftmals auch Grundrechte verankert. Im 19.Jahrhundert sprach man (mit einer Unterscheidung, die andere Sprachen nicht machen können) von einer «Konstitution», denn Verfassung bezeichnete ursprünglich ganz allgemein die Struktur der staatlichen Ordnung, die Art und Rechtfertigung der Herrschaft. Monarchie, Aristokratie, Demokratie: Das waren für griechische Schriftsteller der Antike wie Aristoteles oder Polybios verschiedene Formen der «politeia», des Staates oder der Regierung; oder eben auch: der Verfassung.Dieser Begriff ist in der politischen Theoriegeschichte bis heute üblich, im Rückgriff auf eine vielhundertjährige Tradition, die über «gemischte Verfassungen» räsonnierte oder sich, im Anschluss an Polybios, die politische Entwicklung von Staaten als einen «Verfassungskreislauf» vorstellte, in dem die klassischen Regierungsformen einander in Aufstieg und Verfall immer wieder ablösen. Auch wissenschaftliche Disziplinen wie das Verfassungsrecht oder die Verfassungsgeschichte beziehen sich auf einen solchen weiteren Horizont.
In diesem Sinne gibt es bis heute Staaten, auch Demokratien, die eine Verfassung, aber keine Konstitution haben. In GroÃbritannien stützt sich das Verständnis von Staatsordnung, Souveränität und Rechten auf Tradition â und auf eine Vielzahl von einzelnen Dokumenten, die nach Krisen und Konflikten, vor allem des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Regelungen über Rechte und Verfahren getroffen haben. Im 19. Jahrhundert fasste Walter Bagehot diese Verfassung in einem einflussreichen Standardwerk über «The English Constitution» (1867) zusammen, aber eine Verfassungsurkunde, wie man auch sagt, haben sich die Briten nie gegeben. Solche Texte entstanden zuerst in den Revolutionen des späten 18.Jahrhunderts, in den ehemaligen britischen Kolonien Nordamerikas, dann auch für den Bundesstaat, und in Frankreich.
In dieser Tradition ist der Zusammenhang von Revolution und Konstitution bis in das 20. Jahrhundert sehr eng geblieben. Denn in einer Revolution geht es darum, schnell und verbindlich eine neue politische Ordnung zu schaffen und zu legitimieren, zum Beispiel die Republik anstelle der Monarchie. Forderungen müssen befriedigt und dauerhaft garantiert werden, deshalb hält man sie schriftlich fest und verleiht ihnen einen besonderen Wert, oberhalb der normalen Gesetze. Dabei schwingt auch das naturrechtliche Denken der Aufklärung mit: Denn insofern eine Verfassung die «natürlichen» Rechte, die naturgegebene Freiheit der Menschen festhält, muss sie mehr sein als das übliche, menschengemachte, «positive»
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