Was ist Demokratie
Hatte Europa nicht schon eine Verfassung, die â der britischen nicht unähnlich â aus einem Geflecht einzelner Dokumente und Verträge seit den 50er Jahren bestand? Aber es ging um eine «Konstitution», die mit einem Ausbau der EU als Demokratie, zum Beispiel in den Parlamentsrechten, verknüpft werden sollte. Andererseits fehlte eine revolutionäre Dynamik, ein deklaratorischer Zeitpunkt, wie es ihn bei nationalen Verfassungsschöpfungen oft gegeben hatte. Die Verfassung sollte, so wie sie 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde, «Vertrag über eine Verfassung» heiÃen und las sich auch so, ohne die charakteristische Knappheit klassischer Verfassungstexte. Wie in Nordamerika 1787/88 musste dieser Vertrag von den Einzelstaaten ratifiziert werden und scheiterte vor allem nach der Ablehnung in den Referenden Frankreichs und der Niederlande 2005. An die Stelle der Verfassung trat zwei Jahre später der Vertrag von Lissabon. Viele in Deutschland argumentierten, die europäische Verfassung sei letztlich an ihrer mangelnden demokratischen Kühnheit gescheitert: Sie habe die Souveränität weiterhin aus den Einzelstaaten der Union ableiten wollen, statt ein europäisches Volk zu schaffen. Aber genau diesen Schritt lehnten viele andere Länder â und nicht diejenigen mit der schwächsten demokratischen Tradition! â ab, weil sie damit die nationale Volkssouveränität bedroht sahen. So spiegelt die offene Frage der europäischen Verfassung bis heute ein Spannungsfeld der Demokratie.
10 Gute Bürger?
Der Streit um demokratische Tugenden
Man verbindet Demokratie häufig zuerst mit ihren Institutionen: mit einem Parlament und den anderen Zweigen der Gewaltenteilung, mit Verfassungen und regelmäÃigen freien Wahlen. In solchen Institutionen sei Demokratie «verankert», sagt man und meint damit auch, dass sie etwas dauerhaft sichern, was sonst vielleicht gefährdet sei. Aber genügt dieses institutionelle Fundament? SchlieÃlich konnten Parlamente immer wieder auch abgeschafft, frei gewählte Regierungen durch Diktaturenersetzt werden. Wenn Demokratie die Herrschaft des Volkes ist, dann ist die Haltung der Bürgerinnen und Bürger zur Demokratie, überhaupt ihr Interesse für politische Dinge, vielleicht sogar von entscheidender Bedeutung. Kann Demokratie also nur entstehen und weiterbestehen, wenn ihre Bürger sich zu ihr bekennen, wenn sie demokratisch denken und auch handeln? Und wie lässt sich das erreichen, denn jemanden zur Demokratie zu zwingen, würde ihrem Anspruch zur Freiheit ja widersprechen. Dieses Problem ist nicht trivial und kein Glasperlenspiel, sondern ein zentrales Thema der Demokratie seit ihren Anfängen. Immer noch wird darüber gestritten; eine eindeutige Antwort gibt es nicht.
Eine klassische und einflussreiche Antwort hat bereits Aristoteles gegeben: Der Mensch ist für ihn seiner Natur nach ein politisches Lebewesen, ein «zoon politikon». Die Politik, der gute Zustand des Gemeinwesens, kann ihm gar nicht egal sein, weil er mit einem politischen Instinkt, mit einer Orientierung auf aktives Engagement für das Gemeinwohl, schon geboren wird. Solche guten Charaktereigenschaften nannte man früher, und manchmal noch heute, «Tugenden». Durch die gesamten fünfhundert Jahre der neuzeitlichen Geschichte, von der Renaissance bis in die Gegenwart, zieht sich eine wichtige Tradition, den tugendhaften Bürger (seit dem 18. Jahrhundert dann auch vermehrt die gute Bürgerin) ins Zentrum zu stellen: für die Sicherung freiheitlicher Regierungen etwa in den italienischen Stadtrepubliken; für moderne Republiken und Demokratien; heute würden wir oft sagen: für eine engagierte demokratische Zivilgesellschaft. Schärfer als bei Aristoteles stellte sich dabei, etwa für Niccolò Machiavelli in seinen «Discorsi», die Frage nach der Gefährdung und Zerbrechlichkeit dieser politischen Bürgertugend. Denn auch wenn sie dem Menschen prinzipiell in die Wiege gelegt ist, kann sie zerstört oder korrumpiert werden. Unter dem Einfluss des frühen Kapitalismus sah man im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem in England, das individuelle Streben nach Profit, nach Reichtum, nach Luxus als solche zerstörerische Kraft. Wer seinen freiheitlichen Geist nicht verlieren und die Interessen des Ganzen im Blick behalten wollte, musste sich einer Art
Weitere Kostenlose Bücher