Was ist Demokratie
ebenso wie seine Aufhebung vierzehn Jahre später.
Wie man mit einer Verfassung praktisch umgeht, welche Bedeutung sie im alltäglichen politischen Leben gewinnt, das lässt sich mit dem Begriff der «Verfassungskultur» einfangen, die in Demokratien oft eine besonders wichtige Rolle spielt. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert feierten Bürger «ihre» Verfassung häufig emphatisch und ausgelassen mit StraÃenumzügen, Versammlungen und festlichen Mahlzeiten. Ob in Philadelphia 1787 oder in badischen Kleinstädten in den 1840er Jahren â solche Feste brachten zum Ausdruck, dass die Verfassung zu einem wichtigen Symbol der Freiheit geworden, aber zugleich im einfachen Volk, bei Handwerkern oder kleinen Kaufleuten, angekommen war. Man konnte sie verstehen und zur eigenen Lebenserfahrung in Beziehung setzen, umso leichter, je knapper und prägnanter sie formuliert war.
Solche Feste verschwanden im späteren 19. Jahrhundert wieder, aber in den USA blieb die Verfassung bis heute auf einem besonderen symbolischen Podest der Heiligkeit. Sie wird auf Pseudo-Pergamentpapier touristisch verkitscht, dient aber vor allem als erster Bezugspunkt von öffentlichen Debatten um Freiheitsrechte und um die Aufgaben des Staates, gerade auch in Kritik und Protestbewegungen. Wie in Deutschland spielt das oberste Gericht, das für die Auslegung der Verfassungzuständig ist, für diese kulturelle Verankerung und zivilreligiöse Ãberhöhung der Verfassung eine zentrale Rolle. Worum auch immer es geht: um Steuern, «free speech» oder das Recht auf Abtreibung, immer definieren zwei Kräfte die Verfassungskultur: Was lag in der ursprünglichen Intention der Verfassung, und wie bleiben wir dem treu? Und andererseits: Wie kann der Sinn der Verfassung veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden; wie müssen ihre Grundaussagen im Lichte veränderter Wertvorstellungen interpretiert werden?
In anderen Demokratien steht die Verfassung nicht so im Mittelpunkt. Weil die Verfassungen in Frankreich seit der Revolution häufig gewechselt haben, ist auch diejenige der Fünften Republik von 1958 kaum mit einem besonderen Kult umgeben. Länderverfassungen haben in Deutschland seit 1918, erst recht seit 1945 kaum gröÃere öffentliche Bekanntheit erlangt oder sind zu Bezugspunkten politischer Identität geworden. Dafür hat sich um das Grundgesetz seit 1949 eine ausgeprägte Verfassungskultur entwickelt. Gerade dem Grundgesetz war das keineswegs in die Wiege gelegt, das nicht revolutionär entstand wie seine Vorläufer von 1849 und 1919 und mit seiner Geltung für den westdeutschen Teilstaat nur eine Ãbergangslösung, ein Provisorium bis zu einer Verfassung für ganz Deutschland sein sollte. Erst in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich das Grundgesetz zu jenem archimedischen Punkt für Freiheitsrechte und Demokratie, den es bis heute darstellt. Der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl meinte noch 1963, man könne das Grundgesetz nicht ständig «unter dem Arm tragen». Dafür wurde er viel kritisiert, und am Ende der 1970er Jahre sprach Dolf Sternberger schon von einem besonderen westdeutschen «Verfassungspatriotismus».
Jürgen Habermas griff diesen Begriff auf und setzte sich mit ihm für eine demokratische Identität der Westdeutschen ein, die sich nicht mehr auf die alte «Nation» bezog, sondern auf die Werte des Grundgesetzes. Das Trauma der Zerstörung der Weimarer Verfassung durch die Nationalsozialisten 1933/34 verstärkte die Einstellung, die neue Verfassung, das Grundgesetz, nicht so schnell loszulassen und auch gegen seine Gegner zu verteidigen. Nicht umsonst heiÃt ein Geheimdienst «Bundesamt für Verfassungsschutz». Obwohl Habermas 1989/90 zu jenen gehörte, welche die Wiedervereinigung zum Anlass für eine neue Verfassung (nach Art. 146 GG) nehmen wollten, war es letztlich gerade der von ihm beschriebene Verfassungspatriotismus, also der überragende symbolisch-kulturelle Wert des Grundgesetzes, der eine Mehrheit fürseinen Fortbestand (und einen Beitritt der Länder der ehemaligen DDR nach Art. 23 GG) votieren lieÃ.
Ein gutes Jahrzehnt später stritt die Europäische Union um eine Verfassung, und damit auch über ihr demokratisches Selbstverständnis. Die alten Schwebelagen des Begriffes schienen dabei wieder auf:
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