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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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demokratischer Askese verpflichten. Und in Montesquieus «Geist der Gesetze» war die Tugend das Grundprinzip, das die Demokratie von der Monarchie oder Despotie unterschied, weil sie sich nicht auf Autorität oder Gewalt stützen konnte.
    Diesen Gedanken wiederum spitzte Robespierre in der Französischen Revolution zu und machte daraus seine elitäre und schließlich gewaltbereiteTugendlehre, in der nur eine Minderheit der Bürger zur Tugend im vollen Sinne fähig war und für die übrigen definieren konnte, was unter einem tugendhaften politischen Verhalten zu verstehen sei. Karl Marx konnte übrigens mit solchen Tugendlehren nichts anfangen, weil er als junger Mann ein optimistisches Menschenbild hatte und ihm später die Strukturgesetze des Kapitalismus entscheidend waren. Aber Lenins Konzept einer revolutionären Avantgarde, die zur Durchsetzung der Diktatur des Proletariats berufen sei, knüpfte im frühen 20. Jahrhundert wieder an Robespierre an. Dabei brachen die Brücken zur Demokratie endgültig ab, doch in vielen Neuansätzen des späteren 20. Jahrhunderts tauchte der Appell an die bürgerlichen Tugenden wieder auf, und ihre Notwendigkeit gerade für eine Sicherung der Demokratie gegen ihre Feinde wurde betont. Dazu musste man, wie das etwa der britische Philosoph Alasdair MacIntyre getan hat, die elitäre Verengung des Tugendbegriffes und seine zwangserzieherischen Fesseln abschütteln und ihn, auch im Rückgriff auf Aristoteles, wieder näher an die menschliche Natur heranführen. Auch im öffentlichen Streit um Demokratie werden Tugenden guter demokratischer Bürger immer wieder beschworen; eine Denkschrift der Evangelischen und Katholischen Kirche stand im November 2006 unter dem Titel «Demokratie braucht Tugenden». Doch wo diese Tugenden herkommen, angefangen von einem ganz grundsätzlichen Interesse an Politik, bleibt schwer zu beantworten.
    Man kann von einer ganz anderen Voraussetzung ausgehen, genauer: von einem anderen Menschen- und Gesellschaftsbild. In der klassischen liberalen Lehre ist der Mensch kein «politisches Lebewesen» und nicht von Natur aus auf das Gemeinwohl geeicht. Sondern er ist frei geboren, vor und außerhalb jeder politischen Organisation, und verfolgt seine individuellen Interessen eines freien, sicheren und glücklichen Lebens, zu deren Erreichung er sich eher notgedrungen mit anderen zusammenschließt und eine Regierung einsetzt. Demokratie entsteht dann aus einem freien Spiel der Kräfte, indem Bürgerinnen und Bürger ihre individuellen, ja sogar egoistischen Interessen einbringen und durchzusetzen versuchen, freilich – so die Idealvorstellung – unter Beachtung vernünftiger Grundregeln wie des Mehrheitsprinzips. Dann bedarf es keiner besonderen Tugend, keiner Orientierung an Werten des Gemeinwohls; streng genommen noch nicht einmal eines privilegierten Interesses an Politik. Politische Entscheidungen sind gewissermaßen ein Nebeneffekt der eigenen Interessen, mögen sie sich auf niedrige Steuern,kostenlose Bildung oder Schutz vor Fluglärm beziehen. So bildet dieses Modell, das in den amerikanischen «Federalist Papers» im späten 18.Jahrhundert klassisch formuliert ist, gerade auch die Realität der modernen, vielstimmigen Demokratien mit ihrer unmittelbaren Artikulation von Bürgerinteressen ein ganzes Stück weit ab: Was soll der Appell an Tugend und Gemeinwohl, wenn die neue Bahntrasse nun einmal nicht an
meinem
Grundstück vorbeiführen soll?
    Gleichwohl fanden viele Liberale diese Antwort nicht mehr befriedigend, vor allem zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Im fortschreitenden Industriekapitalismus war die Gesellschaft ungleicher geworden; von freiem Spiel gleicher Kräfte konnte nicht mehr die Rede sein. In älteren Demokratien wie den USA registrierten viele Zeitgenossen eine Ermüdung. Institutionen alleine konnten die demokratische Ordnung nicht am Leben erhalten. Es bedurfte der Reformen – und der Belebung einer demokratischen Gesinnung. Das war der Ausgangspunkt für den amerikanischen Philosophen und Erziehungswissenschaftler John Dewey, einen wechselseitigen und unauflöslichen Zusammenhang von Erziehung und Demokratie zu fordern. Einerseits setzte er sich für Erziehungs- und Schulreformen ein, die statt Lernstoff und Autorität die Freiheit und individuelle Selbstentfaltung betonten. So sollte die Demokratie die

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