Was ist koscher - Jüdischer Glaube
Dieser lang gehegte Wunsch, ebenso wie der Zeitgeist, der die VernunĞ zur neuen GoĴ heit erhob, führten schließlich dazu, dass vielen Juden die althergebrach-te Lebensweise veraltet, überholt, um nicht zu sagen: peinlich war. Man suchte neue Wege, um der neuen Lebenssituation gerecht zu werden.
Das Ergebnis hieß: Reformjudentum. Es begann, wie konnte es anders sein, in Deutschland. Israel Jacobson ließ den ersten »Reformtempel« in Seesen erbauen. Die Liturgie enthielt nun auch Gebete auf Deutsch, nicht mehr nur auf Hebräisch.
Choräle und andere Formen musikalischer Darbietung, wie irgendwann auch der Gebrauch der Orgel, wurden vom christlichen Protestantismus übernommen.
1818 entstand in Hamburg eine zweite Reformgemeinde, die sogar ein eigenes Gebetbuch drucken ließ. In den Gebeten wurde jeder Hinweis auf den Messias gestrichen sowie
– noch wichtiger – jede Anmerkung über die Einsammlung der Zwölf Stämme im Lande Israel. Was jahrtausendelang Bestand gehabt haĴ e – die Hoff nung auf eine Rückkehr des jüdischen Volkes in die alte Heimat –, wurde nun von diesen deutschen Juden einfach über Bord geworfen. Man befand sich bereits in der Heimat. Und die hieß Deutschland.
Die theologische Entwicklung war dementsprechend: Immer häufi ger verneinten liberale jüdische Gelehrte die GöĴ -
lichkeit der Thora. Sie glaubten nicht mehr daran, dass sie in ihrer Gesamtheit Wort für Wort genau so, wie sie bis heute existiert, von GoĴ dem Moses am Berg Sinai übergeben worden war. Man sah in der Thora zunehmend einen Text, der von verschiedenen inspirierten Männern, denen sich GoĴ of-fenbart haĴ e, geschrieben worden war. Mit dieser Interpretation konnte man endlich die GöĴ lichkeit und damit die Unverrückbarkeit der Gesetze der Thora in Frage stellen. Man 134
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betonte den ethischen Monotheismus, berief sich eher auf die moralische Lehre der Propheten als auf die Gesetze, die man nun über Bord zu werfen begann, weil sie den modernen Gepfl ogenheiten nicht mehr entsprachen und für manche beruf-liche Entwicklung hinderlich waren. Die Speisegesetze wurden modifi ziert, und einige Gemeinden gingen sogar so weit, die KopĠ edeckung für Männer abzuschaff en und den Schabbat von Samstag auf den Sonntag zu verlegen, um sich noch weniger als sowieso schon von den christlichen Nachbarn zu unterscheiden!
Das Reformjudentum, das bis heute von der Orthodoxie als
»Judentum light« angegriff en und abgelehnt wird, wurde im Westen ähnlich erfolgreich wie im Osten der Chassidismus.
1838 fand die erste Konferenz für Reformrabbiner staĴ , 1841
wurde die West-London Synagogue für Reformjuden ge-gründet, in Breslau wurde 1854 ein Seminar eröff net, das Reformrabbiner ausbildete, 1869 geschah dasselbe in Budapest.
In Berlin wurde 1872 die Hochschule für die WissenschaĞ des Judentums gegründet.
Doch es war die Neue Welt, die schließlich zur Heimat der Reformjuden werden sollte. 1824 wurde in Charleston, South Carolina, der erste Reformtempel der USA eröff net. Und schon bald gab es in allen größeren amerikanischen Städten Reformgemeinden. Diese begannen bald ihre eigenen Gebetsbücher zu drucken sowie weitere Reformtexte, die die Heiligen SchriĞ en ganz im neuen Stil interpretierten. 1875
wurde das miĴ lerweile bedeutende Hebrew Union College in Cincinnati, Ohio, eröff net. Dort werden bis heute Reformrabbiner ausgebildet.
In der so genannten PlaĴ form von PiĴ sburgh wurden 1885
die Leitgedanken des Reformjudentums festgeschrieben. Sie 135
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sahen vor, dass nur noch die moralischen Gesetze der Thora zeitlos und auf ewig bindend sind, dass die Juden nicht mehr auf den Messias oder auf die Wiederentstehung eines jüdischen Staates in Israel warten, dass die Speisegesetze sowie die Regeln für die Reinheit der Frau überholt sind. Selbst wenn das Reformjudentum bis heute viele Veränderungen durchgemacht hat und dem traditionellen konservativen Judentum heute näher ist als zu Beginn, selbst wenn auch Reformjuden längst den Staat Israel als zentralen Teil ihrer jüdischen Identität ansehen, in gewisser Weise haben sie die alten Pfade der Tradition verlassen und sind zum ersten Mal Wege gegangen, die außerhalb der Halacha liegen.
Denn in der Geschichte des Judentums, in der Veränderung und Anpassung der Gesetze an die jeweiligen Le-bensumstände zum Alltag der Rabbinen
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