Was ist mit unseren Jungs los
Grenzen wurden porös oder ganz durchlässig. Wegen der medialen Vernetzung durch das Internet sind die Grenzen zwischen kindlichem Schonraum und der schrecklichen Welt dort draußen aufgehoben worden. Vom Moment an, wo ein Jugendlicher sich interessiert, kann er an einer unendlichen Informations- und Bilderflut teilhaben, die nicht von Erwachsenen überwacht und kontrolliert wird. Zu Wissen, Skandalgeschichten, krassen, schrecklichen Ereignissen und Bildern von zweifelhaftem Wert hat er über Mausklick Zugang. Die stille, private Abgeschiedenheit des Computers macht es möglich, dass man sich Themen widmet, die sich außerhalb des familiären Denkhorizonts und des pädagogischen Wertekanons befinden. Man surft auf Pornosites, erschauert beim Betrachten grässlicher Unfälle oder erschreckt wegen einer Hinrichtungsszene im Iran. Dem Erkundigungstrieb sind im virtuellen Raum keine Grenzen gesetzt; heiße Tipps oder Sites tauscht man unter sich aus. Man kann sich nicht nur in fremde Kulturen und Wissensgebiete einklicken, möglich ist auch der spielerische Umgang mit anrüchigen und pädagogisch verfemten Themen: Allein oder mit Freunden ballern Jungs in den Straßen von Los Angelos auf Polizisten, besuchen dubiose Bars und bumsen zwischendurch mit einer Prostituierten. Wenn Kinder oder Jugendliche das Internet und die Möglichkeiten des Computers entdeckt haben, dann haben traditionelle Spiele gegenüber dem Spiel mit dem Schrecklichen keine große Chance. Verstecken oder Puzzles gelten bei medial sozialisierten Kindernund Jugendlichen rasch als langweilig. Die Internetrevolution veränderte auch das Kontaktverhalten der Jugend. Man muss nicht zum Telefon im Flur greifen und das Mitlauschen der Mutter befürchten, wenn man eine Freundin anruft, sondern im privaten Raum des Internets bleiben den Erwachsenen die eigenen Kommunikationsstrategien verborgen. Beziehungen werden zu virtuell ausgetragenen Experimenten. Dank Chatten, Twitter, Facebook, jedoch auch per Handy kann man ein Kontakt- und Beziehungsnetz aufbauen, von dem Eltern und Lehrer nie etwas erfahren. Man flirtet im Chatroom mit unbekannten Männern, präsentiert sich in erotischer Pose und verfügt dank Facebook über ein riesiges Netzwerk von Freundinnen. Will man ausgehen, legt man sich nicht vorher fest, sondern verschickt eine Anzahl SMS, um sich einen Überblick über die Ausgangszene und die Pläne der Freunde zu verschaffen, bevor man sich entscheidet. Und natürlich kann man auf elektronischem Weg auch richtig gemein sein, ein peinliches Foto ins Facebook stellen, um jemandem einen Seitensprung oder Trunkenheit anzudichten oder eine Hate-Page eröffnen. Die virtuelle Welt ermöglicht neue Mobbingstrategien, und Beziehungen beendet man prinzipiell per SMS.
Viele Eltern, Politiker und Pädagogen reagieren besorgt auf diese Entwicklung. Befürchtet wird eine Verrohung der nächsten Generation. Wird sie Pornographie mit gesunder Sexualität verwechseln? Führen Ballerspiele zu mehr Gewalt und bewirken die grässlichen Bilder ein Trauma? Verlieren Kinder und Jugendliche den Realitätssinn und sind Jugendliche dubiosen Kontakten ausgeliefert? Wir haben Angst, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen Themen und Verführungen ausliefern, die sie seelisch nicht bewältigen können. Gegenmaßnahmen werden erwogen. Gefordert wird ein Verbot der Killergames, geregelter Computerzugang und vermehrte Kontrolle durch die Eltern, damit nicht eine Generation lebensfremderComputerjunkies heranwächst, die das Leben nur als Programm sehen und im direkten sozialen Kontakt überfordert sind.
Das Rad der Geschichte können wir nicht mehr zurückdrehen. Kinder und Jugendliche in einen abgeschotteten Lebensraum zurückzuschicken, ist heute nicht denkbar. In unserer liberalen Gesellschaft verfügen wir nicht mehr über die entsprechenden Machtmittel. Wir müssen uns mit dem Verlust des Wissensmonopols und unserer Macht als Steuerungsinstanz der Informationen abfinden. Von einem bestimmten Alter an regt sich in Kindern und Jugendlichen eine natürliche Neugier, die Welt »dort draußen« kennen zu lernen. Sie erkennen die Möglichkeiten, die die Gesellschaft ihnen bietet, und wollen sie ausschöpfen. Sie geben sich mit der Vorauswahl der Erwachsenen nicht zufrieden, sondern wollen wissen, wie es wirklich ist. Oft steht die Suche nach dem ganz Anderen im Vordergrund, das den Erfahrungs- und Denkhorizont des familiären oder schulischen Umfelds sprengt und ihnen die
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