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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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ich drüber nachgedacht habe, Vegetarier zu werden. Aber das hätte ich meinen Eltern nicht antun können.«
    Er lässt den Regenschirm am Handgelenk hin und her baumeln.
    Â»M-hm.«

    Â»Wie ist das denn, wenn du mit deinen Eltern isst, nehmen die da Rücksicht?«
    Ich weiß schon wieder nicht, was ich darauf antworten soll. Gerade als ich mich für ein nichtssagendes »Eigentlich schon« entschieden habe, oder ein »Mal mehr, mal weniger«, irgend so eine Wischi-Waschi-Bemerkung, die diese blöde Unterhaltung ersticken und beenden würde, rollt ein Wagen auf den Hof. Es ist der Golf.
    Â»Warte, Schatz!«, ruft Flo, als Judith die Fahrertür öffnet. Auf Zehenspitzen hüpft er durch den Regen und spannt dabei den Schirm auf. Es ist ein Tweety-Regenschirm. Rausgestreckter Hintern, große Augen, lange Wimpern. Drum herum lauter Herzchen. Tweety ist offensichtlich in love. Flo und Judith auch. Sie stehen unter ihrem Kinderschirm und küssen sich. Hoffentlich fängt jetzt keiner an, »Singin’ in the Rain« zu trällern.
    Ich ertränke meine Kippe in einer Pfütze, zünde mir eine zweite an und denke darüber nach, wie das eigentlich war mit den Mahlzeiten bei Familie Meissner. Und ich erschrecke ein wenig, als mir auffällt, dass ich darüber noch nie nachgedacht habe.
    Familie Meissner, wie das schon klingt.
    Sind meine Mutter, mein Vater, Silvia und ich jemals eine richtige Familie gewesen? Verglichen mit den Arends kommt mir der Gebrauch dieses Wortes für unseren Trümmerhaufen vor wie Blasphemie.
    Ich denke nie über meine sogenannte Familie nach. Seit ich hier bin, werde ich dagegen ständig damit konfrontiert. Allein heute: der Traum, der Friedhof, das mit dem Witz vorhin. Jetzt schon wieder.
    Flo und Judith huschen unter dem Schirm an mir vorbei. Sie begrüßt mich mit einem kurzen »Hallo«. Susi
steht in der Tür und wedelt altersschwach mit dem Schwanz.
    Ich rauche.
    Und halte die Fresse. Mal wieder.
    Â 
    Seit ich Vegetarier bin, habe ich nur ein einziges Mal mit meinen Eltern zusammen gegessen. An meinem Geburtstag vor gut einem Jahr, beim Italiener in Mitte.
    Ich hatte diesmal keine Lust, jeden von ihnen einzeln zu treffen, also lud ich die beiden zusammen zum Essen ein. Einfach so. Ich dachte, wenn sie nicht wollen, egal, und war selbst überrascht, als beide ohne zu murren zusagten. Rückblickend gesehen, ging das wahrscheinlich nur, weil mein Vater schon so krank war, dass er keine Zeit mehr hatte für seinen krankhaften Stolz.
    Silvia war auch mitgekommen. Sonst hätte ich das auch nicht gemacht. Wenn Silvia dabei war, versuchten immer alle, sich zu beherrschen. Weil sie so vernünftig ist. Silvia ist eine Instanz. Sie steht über allem und allen. Wenn man in einem Lexikon nach dem Begriff »Instanz« sucht, ist da bestimmt ein Foto von meiner Schwester.
    Wir hatten seit fünfzehn Jahren nicht zusammen an einem Tisch gesessen. Von der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses an sich mal abgesehen, verlief der Abend eigentlich recht unspektakulär. Ein bisschen Gemecker über die Bedienung, die meinem Vater mit seiner »Der Kunde ist König«-Mentalität mal wieder zu unfreundlich war, und die übliche »Und sonst so?«-Konversation, dekoratives Geplauder über dies und das, die ersten Spiele der Fußball-EM, das Wetter und so weiter.
    Silvia erzählte ein bisschen von ihrer Doktorarbeit, sie steckte gerade in den Vorbereitungen. Jura. Ein abendfüllendes Gesprächsthema, wenn man es geschickt anstellt.

    Meine Mutter fand das alles »toll«, und mein Vater fand das alles »toll«, dabei hörten sie, genau wie ich, gar nicht richtig hin. Wir waren nur froh, dass überhaupt jemand redete.
    Meine Mutter trank für ihre Verhältnisse auffallend viel Wein. Mein Vater trank auffallend wenig, nämlich gar nichts, nur Wasser. Er aß auch kaum etwas. Er sah nicht gut aus. Natürlich hing die Frage nach seinem gesundheitlichen Zustand die ganze Zeit über unserem Tisch wie eine große dunkle Wolke. Wir ignorierten sie einfach. So was bespricht man nicht unter Fremden. Denn das waren wir: Fremde. Mit einer gemeinsamen Vergangenheit zwar, aber einer von der Sorte, die man auf keinen Fall ansprechen durfte. Es war wie Eierlaufen auf einem Minenfeld. Jedes Wort ein Substitut für die Dinge, denen mit Sprache nicht mehr beizukommen war. Eine reine

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