Was Liebe ist
ihm den Fahrpreis, achtunddreißig Gulden.
Er zieht das Portemonnaie aus der Jackentasche, aber dann sagt er: »Fahren Sie zurück … please, turn around.«
Der Taxifahrer fährt wieder an. Er spricht Deutsch.
»Haben Sie etwas vergessen?«
»Fahren Sie einfach.«
Gibt es eine akzeptable Erklärung für das, was er tut? Oder folgt er einem Klischee? Dem des Mannes, der von einem auf den anderen Moment alles stehen und liegen lässt? Steigt er aus seinem Leben aus? Er glaubt nicht, dass es so ist. Er zweifelt nicht an seinem Leben.
Sie schleichen nur noch durch den Nebel vorwärts. Plötzlich herrscht er den Taxifahrer an, dass es ihm zu langsam geht. Das ist absurd, er sieht es sofort ein. Ein Auffahrunfall ist für diese Woche genug. Die Sichtweite beträgt kaum vier oder fünf Meter. Die Nebelleuchten der vorausfahrenden Wagen sind diffuse Lichtflecken. Werden sie deutlicher und kann man ihre Entfernung abschätzen, ist es zum Bremsen zu spät. Er entschuldigt sich für seinen Ausbruch.
Die Tür des Hotelzimmers ist verschlossen. Er hat fast schon damit gerechnet. An der Rezeption erfährt er, dass Zoe das Hotel verlassen hat. Er hätte gleich fragen sollen. Er verlängert das Zimmer auf unbestimmte Zeit. Das Hotel ist um diese Jahreszeit nicht ausgebucht. Was mit dem zweiten Zimmer sei, fragt man ihn. »Ja, das auch«, sagt er und lässt sich einen Stadtplan geben.
Im Frühstücksraum sucht er auf dem Plan den Begijnhof. Er muss dem Oudezijds Achterburgwal bis zu seinem südlichen Ende folgen, sich dann nach rechts wenden bis zu einer Straße, die Rokin heißt. Von dort aus führen der Watersteeg und der Begijnsteeg schließlich zum Begijnhof. Er schätzt, dass es zu Fuß etwa eine Viertelstunde dauert, dorthin zu gelangen.
Der Begijnhof ist sein einziger Anhaltspunkt. Er erreicht den Rokin. Die Lichter der Ampeln schweben über der Straße. Eine Straßenbahn stößt einen Ton aus, um auf sich aufmerksam zu machen. Fahrräder huschen geräuschlos vorbei. Er sieht auf seine Uhr. Die Maschine, in der er eigentlich sitzen sollte, müsste jetzt im Landeanflug auf Frankfurt sein.
Ein Foto auf dem Stadtplan zeigt den Begijnhof als eine von schmalen Backsteinhäusern umgebene Rasenfläche. Als er den Platz erreicht, sind von dem Rasen immer nur wenige Meter sichtbar. Die Fassaden der Häuser kann man im Nebel kaum erkennen. Er orientiert sich an den niedrigen Zäunchen der Vorgärten. Einmal schimmert eine steinerne Skulptur am Weg auf, eine sitzende Frau, vielleicht eine Begine, er weiß es nicht. Die Skulptur steht auf dem Rasen, hellgrau, farblich fast eins mit dem Nebel.
Über ihm wird schemenhaft die schmale Spitze eines Kirchturms sichtbar, gemauert aus demselben roten Backstein wie die Häuser. Auf einer Bank neben dem Eingangsportal sitzt eine Frau, so reglos wie die Beginenskulptur auf dem Rasen. Es ist Zoe. Sie starrt unverwandt in den Nebel. Auch als er sich neben sie setzt, reagiert sie nicht. Er akzeptiert es. Er war es, der sich dafür entschieden hat zu gehen. Er sagt. »Ich war am Flughafen. Aber ich konnte nicht einsteigen.«
Zoes Haut ist fahl, ihre Lippen sind blass wie Wachs. Ihr Schweigen ist unerträglich. Dann, ohne ein Wort zu sagen, steht sie auf und geht. Er folgt ihr nicht, sondern wendet sich in die andere Richtung. Der Nebel trennt sie schnell. Der Nebel ist grenzenlos. Es ist, als könnte man unendlich fallen.
Doch dann hört er Schritte, hastige Schritte. Er dreht sich um, sie kommt auf ihn zu. Sie umfasst ihn, klammert sich an ihn, als würde sie verfolgt. Sie zittert. Selbst durch die Kleidung spürt er, dass sie friert, dass sie ausgekühlt ist bis auf die Knochen. Er denkt an ihren winzigen Rucksack. Wieso hat er nicht schon gestern oder vorgestern daran gedacht.
»Du brauchst etwas zum Anziehen«, sagt er.
Sie küsst ihn, wild, verzweifelt.
»Ich brauche dich .«
VIERZEHN
ER SCHLIESST DIE TÜR . Zoe geht voraus ins Zimmer, in das nur noch wenig Licht fällt. Sie zieht das Top aus, das sie in der Nähe des Bahnhofs gekauft haben. Dabei wendet sie ihm den Rücken zu. Über ihre helle Haut und den dunklen Verschluss des BHs hebt sich der Stoff des Tops nach oben. Er setzt sich aufs Bett und sieht ihr zu.
Der Nebel vor dem Fenster ist noch dichter geworden. Das Licht – milchig, feucht, träge – hat sich den ganzen Tag über nicht geändert. Nun wird es dunkler. Zoe, jetzt in Jeans und BH, lässt das Top neben ihren bloßen Füßen auf den graublauen Teppichboden
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