Was Liebe ist
erfährt er hier, was Liebe ist.
Die Holzbalken unter der Decke, an denen die Bühnenscheinwerfer hängen, sind uralt, knorrig, durchgebogen. Was hat dieses Haus, haben diese Wände, die jetzt mit Aktmalereien behängt sind, alles gesehen? Ein Haus aus der Zeit des Barock, vermutet er. Die Sittengeschichte ist eine Abfolge von ausschweifenden und prüden Zeiten. Das Einzige, was geblieben ist, war vielleicht die Liebe. Dass ein Mann und eine Frau nebeneinander lagen und nicht voneinander lassen konnten.
Er geht auf die Toilette und nimmt seine Topamax – die letzte. Es riecht nach Essigreiniger und Desinfektionsmitteln. Er betrachtet sich im Spiegel. Er findet, dass er müde aussieht nach diesem eigenartigen Tag. Vielleicht kommt er mit Zoe nicht klar. Mit ihren Stimmungsumschwüngen. Auf dem Begijnhof hat sie sich an ihn geklammert wie ein Kind. Beim Einkauf auf dem Dam war sie ausgelassen, aufgedreht. Und jetzt gibt sie sich lasziv und willig.
Er muss mit ihr über das reden, was ihm nicht aus dem Kopf geht. Als er wieder neben ihr sitzt, sagt er also: »Ich habe heute Morgen gedacht, ich hätte Piet gesehen.«
»Piet? Hier in Amsterdam?«
»Ich war mir nicht sicher. Der Nebel war sehr dicht.«
»Du musst dich getäuscht haben.«
»Vielleicht.«
Er beobachtet sie genau. Sie zündet sich eine Zigarette an. Er bildet sich ein, dass es etwas hastiger und nervöser geschieht als sonst. »Wieso sollte Piet in Amsterdam sein?«
»Vielleicht deinetwegen.«
»Piet weiß nicht, wo ich bin.«
»Vielleicht weiß er es doch.«
»Und woher?«
Er zögert einen Moment. Soll er ihr sagen, dass er sie vor zwei Tagen hat telefonieren sehen? Was beweist das schon?
Er sagt: »Du hast den Flug per Kreditkarte bezahlt.«
»Du meinst, Piet schnüffelt mir nach?«
»Er könnte sich auch Sorgen machen.«
»Piet? Nein, ich glaube nicht …«
»Vielleicht will er dich nicht verlieren.«
Sie nippt an ihrem Flying Dutchman.
»Ist mir egal. Ich will nicht über Piet reden.«
Er lässt nicht locker. »Piet ist am Samstagmorgen zu mir ins Hotel gekommen. Er hat gesagt, du hättest ihn schon mehrmals verlassen. Oder es zumindest versucht. Er behauptet, dir Sicherheit zu geben. Vielleicht stimmt das ja. Ich weiß nicht viel über dein Leben.«
Sie rührt in ihrem Flying Dutchman. »Ich bin nicht für ein Dach über dem Kopf und eine Lebensversicherung zu haben. So viel sollte dir klar sein.«
Soll er sich damit zufriedengeben? Soll er akzeptieren, dass er sie nicht versteht? Sie brauchen nichts voneinander zu wissen, um sich zu lieben. Eine Frau betritt die Bühne. Sie ist jung, schlank, gutaussehend. Es gelingt ihm problemlos, sie sich – anders gekleidet – im Alltag vorzustellen: als junge ehrgeizige Anwältin, als quirlige Modedesignerin, als kühle Nachrichtensprecherin. Hier, in diesem Etablissement, strippt sie. Vorerst. Angekündigt ist mehr.
»Findest du sie schön?«, sagt Zoe.
»Ich habe dir gesagt, dass ich das hier nicht brauche.«
»Weil du immer bekommst, was du willst.«
»Nicht mehr als andere auch.«
»Du kannst es dir leisten, arrogant zu sein.«
»Bin ich arrogant?«
Er hat keine Lust, über die Show zu reden. Sie sehen stumm zu. Die Stripperin hat Rock und Korsage abgestreift, ist in BH und Slip. Ein Mann mit Jeans und bloßem, gebräuntem Oberkörper kommt dazu. Sie stellt sich mit dem Rücken vor ihn und lässt ihr Gesäß in seinem Schritt kreisen, während er ihr den BH aufhakt und auszieht.
Zoe starrt auf die Bühne und raucht. Die Sex-Show – das war ihm so deutlich nicht klar – ist keine Show der Frau, sondern eine des Mannes, eine Präsentation seiner Potenz. Erregt Zoe das, was dort geschieht? Er hat nicht die leiseste Ahnung. Er weiß viel zu wenig über Frauen, um arrogant zu sein.
Er denkt an Berlin. An den Regen vor dem Fenster. Hätte es etwas geändert, wenn Zoe nicht in Unterwäsche, sondern nackt aus dem Bad gekommen wäre? Sind die Dinge so einfach, so elementar?
Zoe nimmt einen frisch gemixten Flying Dutchman entgegen und trinkt. Vielleicht hat Piet recht. Sie hat ein Problem.
»Weißt du, warum ich hierher wollte?«
»Keine Ahnung.«
» Hier glücklich zu sein, das ist schon was«, sagt sie. »Hier gibt es nur einen einzigen Grund, glücklich zu sein. Den, dass du neben mir sitzt.«
Er sagt lange nichts. So wie er neben ihr sitzt, sitzt sie neben ihm . Er sollte also glücklich sein, wenn sie es ist.
Das Licht auf der Bühne ist kühl, blau, fluoreszierend.
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