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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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sie lächelt.
    Er spielt und lauscht dabei ihrer Stimme. Das Erste, was er von ihr wahrgenommen hat, erinnert er sich, war ihre Stimme. Ihr Entschuldigung , weil er auf ihrem Platz gesessen hat. Beim Refrain lässt sie sich Zeit. Sie lässt seine kleinen Sexten ein wenig in der Luft schweben und dreht sich zu ihm. Alle dürfen es sehen: Sie singt für ihn. Come on baby light my fire.
    In der zweiten Strophe ersetzt er den a-Moll-Akkord mit der Sexte durch E -7 . Es ist ein spontaner Einfall, der gut funktioniert, weil die Terz des Gesangs jetzt zwischen g und e oszilliert. E -7  – F # -7 , der Harmoniewechsel, mit dem auch My Favorite Things beginnt. Mit einem Seitenblick signalisiert ihm Zoe, dass sie die Anspielung versteht.
    Beim Improvisieren sieht er von der Seite, wie dünn sie ist. Sie isst zu wenig, und sie trinkt zu viel. Seit sie auf derBühne steht, ist der Bund ihrer Jeans um einen oder zwei Zentimeter nach unten gerutscht. Wenn es so weiterginge, würde irgendwann ihr Slip sichtbar. Immerhin hat sie ihn noch. Nach dem, was am Strand war, haben sie ein paar Minuten gebraucht, um das teure Stück Stoff im Sand wiederzufinden.
    Er moduliert zurück zu a, Zoe wiederholt den Refrain. Jedem im Raum ist inzwischen klar, dass sie keine Freizeitsängerin ist, der es ein Anliegen wäre, am Wochenende einmal aus dem gewohnten Trott auszubrechen und sich ein paar Minuten lang als Künstlerin zu fühlen.
    Deswegen rechnet auch niemand damit, dass der Auftritt nach Light My Fire schon wieder beendet ist. Zoe steht nach dem Applaus reglos am Mikrofon. Es wird wieder still. Noch weicht die Bühnenspannung nicht aus ihrem Körper. Er fragt sich, was sie vorhat. Sie schließt die Augen, dann singt sie sehr leise, haucht es fast nur: » You don’t know … what love is … «
    Sie sieht ihn an. In ihrem Blick ist etwas, das ihn irritiert, beunruhigt. Aber die Aussicht, auch diesen Song hier noch zu spielen, dessen fast depressive Harmonien ihn immer gereizt haben, ist zu verlockend. Und so schlägt er, obwohl ihn ein unbestimmtes Gefühl davor warnt, leise einen F -7 an und danach – Zoe wiederholt das You don’t know  – einen D b 9 auf love is .
    Dann wartet er mit dem Publikum darauf, dass Zoe weitersingt. Doch plötzlich steht sie nur noch stumm vor dem Mikrofon. Ihre Haltung verändert sich. Die Bühnenspannung in ihrem Körper verwandelt sich von einem Ausdruckkünstlerischer Präsenz in eine hölzerne Versteifung, der nichts Sinnliches oder Schmerzliches mehr anhaftet. Sie stößt einen Laut aus – mehr der Schrei eines gequälten Tieres als ein Ausdruck menschlicher Not. Ihre Arme und Beine beginnen zu zittern. Dann kippt sie zur Seite weg – schutzlos, bewusstlos.
    Der Dämon, den er zehn Jahre lang in Schach gehalten hat, ist zurückgekehrt. Aber nicht ihn hat er befallen.

ACHTZEHN
    ER IST DER EINZIGE IM RAUM , der weiß, was zu tun ist. Er hat noch nie Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall geleistet, aber er hat sich zwanzig Jahre lang damit beschäftigt. Zoes Körper versteift sich ins Hohlkreuz, ihre Arme und Beine zucken, ihr Kopf bewegt sich ruckartig und überzogen. Ihre Pupillen sind zur Seite gedreht, ihre Augenlider flattern.
    Gemessen an der Heftigkeit des Ereignisses gibt es nicht viel, was man bei einem epileptischen Anfall tun kann. Er prüft, soweit es ihm möglich ist, ob sich Zoe bei dem Sturz ernstlich verletzt hat. Dann schiebt er seine Jacke vorsichtig unter ihren Kopf. Ihr Atem stockt  – auch das gehört zum Verlauf eines Anfalls. Die Atmung setzt für zehn bis fünfzehn Sekunden aus, eine Zeitspanne, die aber unbedenklich ist und zu kurz, um bleibende Schäden zu verursachen. Man muss ruhig bleiben. Üblicherweise lassen die Krämpfe nach ein bis zwei Minuten nach. Dann dreht man den Patienten auf die Seite, damit der Speichel aus dem Mund abfließen kann, und lässt ihn zu sich kommen.
    Auf der Bühne kniend nimmt er irgendwann wahr, dass die ganze Aufmerksamkeit im Raum auf Zoe und ihn gerichtetist. Niemand kommt näher oder greift zusätzlich ein. Offenbar strahlt er mit dem Wenigen, was er tut, so viel Kompetenz aus, dass man ihn vorerst gewähren lässt. Für die Menge sind sie ein Paar. Trotzdem geht von den geballten Blicken, von der Sensationslust auch etwas Bedrohliches aus.
    Einmal in der Rolle dessen, der weiß, was zu tun ist, spürt er, dass von ihm weitergehende Schritte erwartet werden, nachdem er seine Jacke unter Zoes Kopf geschoben hat. Der kurze,

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