Was Liebe ist
mit den Schultern. Es hat wohl keinen Sinn, ihr etwas vormachen zu wollen. Wozu auch? Was soll man nach sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf und einem Hinrichtungstraum noch abstreiten? Wahrscheinlich ist ihm die ganze Geschichte sowieso anzusehen, von der ersten bis zur letzten Sekunde.
Er sagt: »Eigentlich hatte nur ich in Amsterdam zu tun.«
»Und warum haben Sie es nicht dabei belassen?«
»Es war Zoes Entscheidung mitzukommen.«
»Was soll das heißen? Dass Sie unschuldig sind?« Sie sieht ihn wieder lange an. »Ich muss zugeben, ich wundere mich ein bisschen über Sie. Ich habe Sie mir als Musiker ziemlich anders vorgestellt. Nicht unbedingt mit Anzughose und feingestreiftem Hemd.«
Er geht nicht darauf ein und sagt: »Ich weiß nicht, wie Sie zu Piet stehen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass Zoe mit ihm nicht glücklich war. Dagegen glaube ich, dass sie in der vergangenen Woche mit mir in manchen Momenten sehr glücklich gewesen ist. So glücklich wie schon lange nicht mehr. Ich denke, damit sollten Sie als Mutter – zumindest in einem Teil ihres Herzens – doch auch einverstanden sein.«
Sie atmet vernehmlich ein und aus, nicht abschätzig, aber doch mit der Bedeutung, dass er nicht wirklich weiß, wovon er redet. »Ich glaube nicht, dass Sie in der Lage sind, die Dinge zu beurteilen«, sagt sie. »Sie wissen nicht, was es bedeutet, einem jungen Menschen zu sagen, dass er wegen einer Krankheit dieses und jenes nicht tun soll: die Nächte durchmachen, trinken, ständig unterwegs sein … Und vor allem wissen Sie nicht, wie es ist, von Zoe solche Einschränkungenzu verlangen. Ein paar Jahre lang wusste ich nicht, wie es ihr geht, wie sie zurechtkommt. Sie hat mir die Schuld an allem gegeben. Erst mit Piet ist das wieder besser geworden. Ihm ist irgendwie gelungen, was ich nicht geschafft habe: Zoe dazu zu bringen, sich mit ihrer Krankheit zu arrangieren. Bevor Sie also den Stab über mich brechen und denken, wie ich es denn hinnehmen kann, dass Zoe mit einem Mann meines Alters zusammen ist, und wieso ich Angst vor dem habe, was Sie als Momente des Glücks bezeichnen, sollten Sie zumindest die ganze Geschichte kennen.«
Die ganze Geschichte. Als wäre sie schon zu Ende. Er fühlt sich nicht gut. Seine Kopfschmerzen klingen nicht ab – im Gegenteil. Er sagt: »Sie glauben, es gibt keinen anderen Mann für Zoe außer Piet?«
»Sie meinen sich?«, entgegnet sie. »Weswegen sind wir denn hier? Doch nicht, weil es Zoe gut geht.«
»Sie können sie nicht entmündigen. Es ist Zoes Entscheidung, wie sie mit ihrem Leben und ihrer Krankheit umgeht.«
»Und wenn sie dabei zugrunde geht? Ich bin ihre Mutter. Ich kann nicht aufhören, mir Gedanken darüber zu machen, ob sie in guten Händen ist.«
Sollte er ihr sagen, dass er Epileptiker ist und also bestens weiß, was es bedeutet, mit dieser Krankheit zu leben? Besser als sie. Sie sieht gesund aus. Ihr Gesicht ist gebräunt. Sicher ist sie viel an der frischen Luft und malt ihre Landschaften. Offenbar hat sie ihr Leben zwischen Dünen und Farbtöpfen gefunden.
Er sagt: »Zoe weiß, was sie tut.«
»Lieben Sie sie?«
»Sie wäre bei mir in guten Händen, wenn Sie das meinen.«
»Ich meine, ob Sie sie lieben?«
»Wir sind ein Liebespaar.«
»Das ist mir inzwischen klar.«
Er ist der Meinung, dass ihr die Frage nicht zusteht, sondern nur Zoe. Seine Kopfschmerzen werden immer stärker. Er sollte sich Topamax verschreiben lassen. Schließlich ist er in einem Krankenhaus. Seine Kopfschmerzen könnten ein Warnsignal vor einem Anfall sein. Vielleicht das letzte.
Er sagt: »Ich fühle mich Zoe nah, sehr nah. Das ist es, was ich Ihnen sagen kann. So war es von Anfang an. Ich wollte sie, und sie wollte mich. Manchmal ist es so.«
»Und jetzt sind wir hier.«
Sie sagt es mehr als Feststellung und nicht als Vorwurf. Seine Kopfschmerzen sind beinahe unerträglich. Er geht zum Kaffeeautomaten, wirft eine Münze ein und betätigt die Taste für das Standardprogramm. Manchmal hilft bei ihm Koffein.
Er sagt: »Liebt Zoe Piet?«
Sie schweigt. Der Kaffee plätschert in den Becher, danach ist für eine Weile nur der Regen zu hören. Ihr Schweigen ist auch eine Antwort. Es ist alles gesagt, was in der gegebenen Situation zu sagen ist. Aber dann gibt es doch noch etwas, das sie ihm mitzuteilen hat: »Piet wird ziemlich bald hier sein.«
»Hier im Krankenhaus?«
»Ich habe ihn angerufen. Er war in Amsterdam. Ich nehme an, das hängt ja wohl mit dieser ganzen
Weitere Kostenlose Bücher