Was Liebe ist
gehabt hat. Wie lange hat er geschlafen? Zu kurz auf jeden Fall, um sich von dem, was er hinter sich hat, erholt zu haben. Nach mehr als sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf ist er immer noch übernächtigt und erschöpft.
Er richtet sich im Stuhl auf. Er weiß nicht, wie spät es ist, er hat jedes Zeitgefühl verloren. Auch wenn die Frau, die ihn wachgerüttelt hat, nicht danach aussieht, sagt er: »Sind Sie Ärztin?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich bin Zoes Mutter.«
Das weckt ihn. Der Regen weht gegen die Scheibe.
Sie sagt: »Man hat meine Nummer in Zoes Mobiltelefon gefunden.« Sie dreht einen der verschiedenen Ringe an ihren Fingern. Sie sieht Zoe lange an. Dann wendet sie sich ab, als ertrage sie den Anblick nicht länger. »Wussten Sie, dass Zoe Epileptikerin ist? Es betrifft ja Ihre Zusammenarbeit. Hat sie es Ihnen gesagt?«
Er begreift, dass sie ihn für Zoes Pianisten hält. Dass er Zoe am Klavier begleitet hat, ist das Einzige, was man in der Notaufnahme über ihn weiß, und also hat man diese Information an Zoes Mutter weitergegeben. Soll er den Irrtum aufklären? Soll er ihr sagen, dass er Zoe erst seit einer Woche kennt? Dass sie seinetwegen ihren langjährigen Lebensgefährten verlassen hat und in einen emotionalen Konflikt geraten ist, der am Ende vielleicht sogar Auslöser ihres Anfalls war?
»Nein«, sagt er wahrheitsgemäß. »Ich wusste es nicht.«
Sie nickt langsam. »Zoe will kein Mitleid. Sie ist zu stolz. Aber ich finde, denen, die sie schätzen, sollte sie doch wenigstens vertrauen. Würden Sie einen Menschen anders beurteilen, wenn Sie erfahren, dass er Epileptiker ist?«
»Nein«, sagt er. »Würde ich nicht.«
Um ihren Hals hängt eine Kette mit Holzperlen, die sie mit der rechten Hand umfasst, als müsse sie sich daran festhalten. Gleichzeitig schüttelt sie ratlos den Kopf. »Ich verstehe gar nicht, wie es zu dem Anfall kommen konnte. Zoe ist seit Jahren anfallsfrei. Sie nimmt Medikamente.«
Tut sie das? Hat sie in der vergangenen Woche Medikamente genommen? Er weiß es nicht, aber woher soll er es auch wissen? Die Vorstellung hat etwas Absurdes, dass sie einander geliebt haben, um sich kurz danach auf der Toilette eines Cafés oder Restaurants mit ihren jeweiligen Medikamenten gleichsam zu betrügen. Er kann kaum glauben, dass Zoe nackt ins Hotelbad gegangen sein könnte, um dort bei laufendem Wasserhahn je nach dem, worauf sie eingestellt ist, Neurontin, Taloxa, Timox, Lamictal, Trileptal, Gabitril, Topamax oder Sabril aus ihrem Waschbeutel zu klauben und einzunehmen. So wie er.
Sie sagt: »Ich wusste nicht, dass Zoe hier auftreten würde – so sehr in meiner Nähe. Warum hat sie mir nichts gesagt?«
»Es war eine spontane Entscheidung.«
»Man kommt nicht spontan nach Middelburg.«
»Wir waren eigentlich in Amsterdam.«
Sie werden von einer Schwester gebeten, in einem kleinen Foyer vor den Aufzügen am Ende des Korridors zurIntensivstation zu warten. Sie können nichts tun. Es gibt dort neben einem Getränkeautomaten zwei Resopaltische und Stahlrohrstühle mit Sitzflächen aus braunem Hartkunststoff.
Zoes Mutter sagt: »Möchten Sie einen Kaffee?«
Der Schwebezustand zwischen bleierner Übermüdung und der fiebrigen künstlichen Wachheit ohne Topamax hat sich wieder eingestellt.
»Lieber ein Wasser«, sagt er und setzt sich.
Sie wirft eine Münze in den Automaten. »Zoe lebt ihr eigenes Leben, aber normalerweise meldet sie sich, wenn sie in Amsterdam ist. Wir hatten keinen Konflikt. Gibt es denn irgendein Problem? Unser Verhältnis ist nicht spannungsfrei, aber sie vertraut mir.«
Ist das so? Zoe ist mit den vielen Männern ihrer Mutter nicht klargekommen, und sie weiß bis heute nicht, wer ihr Vater ist. Das klingt nicht nach einem soliden Fundament für eine vertrauensvolle Mutter-Tochter-Beziehung.
Doch die Frau – das spürt er –, die vor dem Kaffeeautomaten steht, ist eine Frau, die nicht so schnell aufgibt. An ihren vor den Programmschaltern schwebenden Händen haften schwache Farbreste. Eine Künstlerin. Sie hat sich alleine mit ihrem Kind durchgeschlagen, sie würde es niemals aufgeben. Irgendetwas in ihrem Verhalten erinnert ihn sogar an Zoe.
Er sagt: »Nein, kein Problem. Eigentlich nicht …«
Sie reicht ihm das Wasser und setzt sich mit ihrem Kaffeebecher an den Tisch. Dann sieht sie ihn lange an. »Sagen Sie mir, was los ist. Glauben Sie mir, ich kenne Zoe. Vielleicht ist es gut, wenn ich es weiß. Geht es um Sie und Piet?«
Er zuckt
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