Was Liebe ist
schrille Ausruf einer Frau in seiner Nähe bedeutet dem Klang nach offenbar: Sie atmet nicht mehr! Mit einer beschwichtigenden Geste fordert er sie auf, abzuwarten und Zoe noch etwas Zeit zu geben. Jemand beugt sich vor, um Zoe zu beruhigen, indem er ihren zuckenden linken Arm festhält. Aber das hilft nicht nur nicht, es ist sogar falsch.
Er schiebt den Arm des vermeintlichen Helfers zur Seite – nicht aggressiv, aber bestimmt. Trotzdem beginnt die Stimmung in der Menge umzuschlagen. Er spürt, dass das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hat, rapide schwindet. Plötzlich drängt sich jemand zwischen Zoe und ihn. Er will sich aufrichten, doch bevor er den anderen zur Seite schieben kann, wird er nach hinten gezogen.
Was soll das? Was geschieht da auf einmal? Kräfte, gegen die er machtlos ist, zerren ihn zur Tür. Er stemmt sich dagegen, er windet sich, aber seine Versuche, sich zu wehren, bleiben ohne jede Wirkung. Er schreit, aber niemand hört ihn. Er hört sich nicht einmal selbst.
Man schleppt ihn auf den Marktplatz. Es regnet in Strömen, er ist in wenigen Sekunden durchnässt. Irgendetwaslähmt ihn. Er kann sich nicht mehr bewegen, er muss nicht einmal mehr festgehalten werden. Der Regen, der von der Stirn in seine Augen rinnt, lässt alles verschwimmen.
Sein Hals schnürt sich zusammen, er bekommt kaum noch Luft. Er beginnt zu frieren. Die Nässe lässt ihn zittern. Plötzlich steht seine Mutter vor ihm, umarmt ihn, presst ihn an sich. Eine Schlinge wird um seinen Hals gelegt. Der Strick ist feucht und kalt. Seine Füße verlieren den Kontakt zum Boden und beginnen zu baumeln. Seine Mutter versucht ihn festzuhalten und drückt ihn verzweifelt an sich. Dadurch zieht sich die Schlinge endgültig zu.
Er schreckt hoch und blickt in die Augen einer Frau, die er nicht kennt. Er braucht lange, um sich zu orientieren. Er befindet sich in einem Raum, der durch schwache indirekte Lichtquellen hinter schmalen Blendleisten beleuchtet wird. Vorhänge trennen verschiedene Abteilungen ab.
Er sitzt auf einem unbequemen, in die Ecke gerückten Stuhl neben einer Fensterfront, hinter der es Nacht ist. Rechts von ihm steht ein fahrbares Bett, daneben ein Gestell mit Monitoren und Schaltkästen, auf deren Armaturen Digitalanzeigen und LEDs blinken.
Die Frau, die vor ihm steht, ist klein und füllig, nicht dick. Sie trägt eine lange, weit geschnittene Bluse mit Rüschen und Raffungen auf der Brust und esoterischen Stickereien an den Ärmeln. Sie ist um die sechzig, ihre Haare sind rötlich dunkel gefärbt. Sie hält ihn vorsichtig an den Schultern und sagt: »Ich wollte Sie nicht wecken, aber offenbar haben Sie sehr schlecht geträumt.«
Er begreift, dass er sich auf der Intensivstation eines Krankenhauses befindet – eben des Hospitals, in das Zoe von einem Rettungswagen gebracht worden ist. Allmählich erinnert er sich wieder an das, was geschehen ist – an Zoes Anfall auf der Bühne und daran, dass ihm schließlich neben ihr kniend klar geworden ist, dass das Anfallsgeschehen nicht typisch war. Es dauerte zu lang. Die übliche Dauer eines epileptischen Anfalls liegt bei ein bis zwei Minuten. Aber danach zeichnete sich ab, dass Zoe aus dem Anfallsstatus von alleine nicht herauskommen würde, und er bat einen der Gäste, den Notarzt zu alarmieren.
Jetzt liegt Zoe ohne Bewusstsein da, angeschlossen an die aufgetürmten diagnostischen Apparate und Monitore. Sie wird durch einen Tubus künstlich beatmet, und von einer Gummikappe auf ihren Haaren läuft ein Gewirr von fünfzehn oder zwanzig verschiedenfarbigen Kabeln in eine elektronische Konsole auf einem Extragestell.
Derart maskiert und intubiert ist Zoe kaum noch zu erkennen. Weder eine Erstbehandlung mit Lorazepam durch den Notarzt noch die anschließende EEG-überwachte intravenöse Gabe von Phenotoin konnten ihren epileptischen Status durchbrechen, so dass man sich schließlich für eine Narkose mit Propofol entschied.
Da er der Einzige im Café war, der Zoe kannte und Angaben zu ihrer Person machen konnte, ließ man ihn im Rettungswagen mitfahren. Allerdings konnte er zur Anamnese kaum etwas beitragen. Vor allem musste er die wichtigste Frage, ob Zoe Epileptikerin sei, offenlassen. Was für ein Zufall!, dachte er und denkt er. Er kann es immer noch kaumglauben. Aber so wie er sich gegenüber Zoe nie als Epileptiker zu erkennen gegeben hat, könnte sie ihre Krankheit ebenso vor ihm verborgen haben.
Er steht auf. Sein Kopf schmerzt von dem Alptraum, den er
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