Was macht der Fisch in meinem Ohr
sind es allerdings die in der englischen und französischen Dichtung geläufigsten und am häufigsten verwendeten Formen, und insofern gleichen sie einander, in jeder anderen Hinsicht aber nicht. Gibt man französische Verse mit englischen zwölfsilbigen Zeilen wieder, beschränkt sich die Analogie zum Original auf die Zahl zwölf, so gut wie keine Gleichheit indes besteht bei den Versrhythmen, denn Englisch ist eine akzentzählende Sprache und Französisch nicht.
Mit der Entscheidung, bei welchen Dimensionen eines Texts eine Gleichheit angestrebt wird und in welchem Umfang sie sichtbar gemacht werden soll, hierarchisiert die Übersetzung die Merkmale, die sich im Original auf vielschichtige Weise wechselseitig durchdringen. Zumindest in dieser Hinsicht sind Übersetzungen stets Auslegungen der Quelle. Bei literarischen Texten mit nur wenigen faktischen Einschränkungen tritt das deutlicher zutage, es trifft prinzipiell aber auf alle Übersetzungen zu.
Der Dreh- und Angelpunkt der Frage ist Folgendes: Wenn wir annehmen, dass eine Übersetzung Information und kommunikative Kraft des Originals bewahrt, inwiefern kann man dann sagen, dass sie in ihrer Art oder in ihrem Stil oder Ton der Quelle gleicht?
Georges Perec schrieb in einer Vielfalt von Stilen, ein Kennzeichen seines Schreibens aber ist, dass wichtige Mitteilungen ans Ende gesetzt sind, wodurch man begreift, dass man die eigentliche Aussage des Satzes oder Abschnitts – oder sogar des ganzen Romans – bis dahin noch gar nicht verstanden hatte. Sätze oder auch ganze Abschnitte lassen sich in französischer literarischer Prosa eher nach diesem Prinzip bauen als in englischer, in der neue Information in der Regel auf andere Weise eingeführt wird. Dank der bekanntermaßen flexiblen englischen Syntax konnte ich mit gehörigem Drehen und Biegen der »Spätausgabe«-Technik von Perec trotzdem weitgehend gerecht werden. Mit dieser meiner Art, Perec zu übersetzen, bot ich zwar eine Deutung seines Stils an, die Gleichheit meiner und seiner Prosa ist aber eng begrenzt und eine heikle Angelegenheit. Da ich mir im Englischen größere Freiheiten nehmen musste, als er es im Französischen tat, ist meine Version im Hinblick auf sprachliche Normen ganz und gar nicht »wie« Perec.
Eine Übersetzung ist mit ihrer Quelle so wenig identisch, wie es zwei Eier vom selben Huhn sind, und man kann auch von keiner Übersetzung erwarten, dass sie ihrer Quelle in mehr als einigen wenigen Aspekten ähnelt. Welche das sind, hängt von den Konventionen der Zielkultur ab, von dem Gebiet, um das es geht, ja sogar von den Launen des Auftraggebers. Da aber Äußerungen viele verschiedene Aspekte und Facetten haben, verfügt ein Übersetzer immer über ein wenig Spielraum. Anders gesagt: Welche sozialen, praktischen, sprachlichen oder gattungstypischen Einschränkungen durch die Quelle auch gegeben sein mögen, sie bestimmen niemals vollständig, wie eine Übersetzung angepackt werden muss.
Wenn Bedeutung und Kraft eines Texts dieselben sind und wenn die Übersetzung auch in anderer Hinsicht ihrer Quelle gleicht, liegt eine Entsprechung vor, Übersetzung und Original passen zusammen. Übersetzer sind Ehestifter einer besonderen Art. Ganz so einfach wie die Hochzeit von Inhalt und Form ist es nicht. Wie beim Vergleich eines Porträts mit dem realen Vorbild müssen wir viele Aspekte und Eigenschaften berücksichtigen, um zu entscheiden, ob tatsächlich eine Übersetzung vorliegt.
Das Erkennen und der Umgang mit dem Geflecht komplexer, vielfach in sich verflochtener Beziehungen, die ich Gleichheit und Entsprechung genannt habe, sind Fähigkeiten, auf denen Rätselbücher für Kinder aufbauen und die von Psychologen untersucht werden.
Übersetzer wenden diese Fähigkeiten auf den Gebieten der mündlichen und schriftlichen Rede in einer Fremdsprache an. Nicht alle sind großartig in ihrem Job und nicht viele haben Zeit und Muße, so lange zu warten, bis ihnen eine optimale Entsprechung einfällt. Aber wenn wir eine Übersetzung akzeptabel nennen, bezeichnen wir damit die gesamte Beziehung zwischen Quelle und Ziel, die weder Identität noch Äquivalenz oder Analogie ist – nur das vielschichtige Etwas namens gute Entsprechung.
Das ist die Wahrheit über das Übersetzen.
32. AVATAR: EINE PARABEL VOM ÜBERSETZEN
Bei einem Aufenthalt in Indien, wohin ich vor einigen Jahren reiste, weil ich mehr über das Übersetzen erfahren wollte, nahm ich mir einmal am Nachmittag frei und ging ins
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