Was macht der Fisch in meinem Ohr
entsprechen. Am Wechsel zwischen den drei Formen lässt sich genau ablesen, wie sich die Beziehungen zwischen den Protagonisten unseres gedachten Romans verändern. Könnte ein Englischübersetzer in seiner Sprache von der Norm abweichen und Anredeformen schaffen, die dieser Dreiteilung im Hindi entsprechen? Ja, natürlich. Wüssten wir aber, dass es sich um eine Eigenheit des Hindi handelt? Ohne Fußnote des Übersetzers nicht – weil wir kein Hindi können.
Da die meisten Übersetzungen zwischen Sprachen stattfinden, deren Sprechergemeinschaften kulturell, ökonomisch oder politisch eng verbunden sind, dienen formale oder lexikalische Anleihen bei der Quellsprache oft dazu, am Fremdartigen – und am Prestige – der importierten Texte zu partizipieren. Das 16. Jahrhundert zum Beispiel erlebte eine Blüte der Übersetzung literarischer und philosophischer Werke aus dem Italienischen ins Französische, während gleichzeitig viele italienische Handwerker nach Frankreich geholt wurden, um überall im Land Paläste und Schlösser zu verschönern. Die Übersetzer jener Zeit schrieben ein an italienischen Wörtern und Wendungen reiches Französisch, weil sie der Auffassung waren, ihren Lesern seien die importierten Wörter und Ausdrücke bereits geläufig oder sollten es zumindest sein. Sie glaubten sogar an eine regelrechte Verbesserung des Französischen, sofern es sich nur dem Italienischen ein wenig annäherte. Und dieser Prozess der Angleichung des Französischen ans Italienische hält bis zum heutigen Tage an. Caban (der Kulani) und caleçon (die Unterhose), die Sie im Schrank, cantaloup und caviar , die Sie (mit Glück) im Kühlschrank haben, und eine Vielzahl anderer gewöhnlicher und gelehrter, edler und köstlicher Dinge – sie alle sind im Französischen benannt mit Wörtern, die aus dem Italienischen übernommen wurden, und bei den meisten geht die erste Übernahme auf Übersetzer zurück. 9
Eine ähnliche Form lexikalischer Bereicherung fand im 19. Jahrhundert statt, als die im deutschen Sprachraum lebenden Völker die Schaffung einer eigenen und vereinten Nation anstrebten. Deutsche Übersetzer importierten mit Bedacht massenhaft Wörter aus dem Griechischen, Französischen und Russischen, um deutschen Muttersprachlern die Literatur der europäischen Klassik zugänglich zu machen und um die deutsche Sprache durch Erweiterung ihres Wortschatzes voranzubringen. Das hatte seinen Grund: Französisch und Englisch besaßen, gestützt auf mächtige Staaten, bereits den Rang von Weltsprachen. Deswegen lernten Ausländer ja Französisch (und, in geringerem Umfang, Englisch). Wie sollte das Deutsche jemals zum Träger eines mächtigen Staates werden, wenn es im Ausland nicht gelernt wurde? Und warum sollten Nicht-Muttersprachler die deutsche Sprache erlernen, wenn nicht auch sie imstande war, den Gehalt der transnationalen Kulturen zu vermitteln, die als Hort der reichen europäischen Zivilisation galten?
In der heutigen Welt begreifen Übersetzer in »kleine« Sprachen ihre Arbeit oft auch als Verteidigung oder als Beitrag zur Entwicklung ihrer Muttersprache – oder beides zugleich. Diesen Brief erhielt ich erst kürzlich von einem Übersetzer aus Tartu:
Meine Muttersprache, Estnisch, wird von etwa einer Million Menschen gesprochen. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass Das Leben Gebrauchsanweisung und meine Sprache einander verdienen. Mit der Übersetzung Perecs möchte ich beweisen, dass das Estnische reich und flexibel genug ist, den Schwierigkeiten zu begegnen, die ein Werk dieser Art mit sich bringt.
Zweifellos kann das Übersetzen nationalen Zwecken dienen – aber auch ihrem Gegenteil, der Sache des Internationalismus. Ein französischer Gegenwartsautor, der unter dem Pseudonym Antoine Volodine schreibt, hat auf verblüffende Weise formuliert, warum er seine Muttersprache so verwenden möchte, als sei es eine fremde. Für Volodine ist Französisch nicht nur die Sprache von Racine und Voltaire. Da schon so lange ins Französische übersetzt wird, ist es auch die Sprache von Puschkin, Schalamow, Li Bai und García Márquez und keineswegs zuerst und vor allem ein Träger nationaler Identität, Geschichte und Kultur, sondern »eine Sprache, die Kulturen, Philosophien und Anliegen vermittelt, die nichts mit den Gepflogenheiten der französischen Kultur oder der frankophonen Welt zu tun haben.« 10 Das Französische ist ja nicht deshalb eine Weltsprache, weil das seine Natur oder seine Bestimmung wäre:
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