Was macht der Fisch in meinem Ohr
In Paris teilt Ismail Kadares französischer Verleger regelmäßig auf seinen Klappentexten mit, die Werke des albanischen Romanciers seien in »über 40 Sprachen« übersetzt worden. Sind es dieselben? Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, lautet die Antwort Ja. Die Zahl der Sprachen, zwischen denen heute mit gewisser Regelmäßigkeit übersetzte Bücher importiert und exportiert werden, beläuft sich auf etwa 50. 1 Das ist zwar nur ein Bruchteil der globalen Sprachenvielfalt, doch damit wird ein großer Teil der Weltbevölkerung erreicht, denn Übersetzungssprachen sind zwangsläufig Verkehrssprachen, und die Zahl derer, die sie lesen (wenn nicht auch sprechen), ist wesentlich höher als die Zahl ihrer muttersprachlichen Verwender.
Was aber ist mit den anderen? Die jüdische und die christliche Heilige Schrift gibt es vollständig oder in Teilen in fast 2500 Sprachen. In einigen dieser Sprachen gibt es auch Übersetzungen von Texten aus den Bereichen Recht und Verwaltung, und in einigen wenigen gibt es Nachrichten- oder Klatschmagazine und in geringem Umfang Unterhaltungsliteratur. Über die Hälfte aller Sprachen weltweit aber, das zeigen diese Zahlen, bekommt überhaupt keine Übersetzungen und abgesehen von circa 50 exportieren alle diese Sprachen auch fast keine. Gedruckt werden Übersetzungen nur an bestimmten Orten. Damit will ich ihre Bedeutung nicht schmälern, sondern auf die merkwürdige Asymmetrie hinweisen, die zwischen den verschiedenen Sprachen auf diesem Planeten schon immer bestand.
Die UNESCO, der kulturelle Arm der Vereinten Nationen, bemüht sich seit ihrer Gründung um die Dokumentation der globalen Übersetzungsströme mittels des Index Translationum , der heute als Datenbank im Web vorhanden ist und durchsucht werden kann. An ihm lässt sich grob ermessen, welche enormen Ungleichgewichte das Übersetzen heute weltweit kennzeichnen.
Chinesisch wird von einem Viertel der Weltbevölkerung gesprochen, und in einer globalen Gesellschaft, in der ein ausgewogenes Geben und Nehmen stattfindet, würde man erwarten, dass es die Zielsprache ungefähr eines Viertels der auf der Welt angefertigten Übersetzungen ist. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Betrachten wir sieben Weltsprachen in der Dekade von 2000 bis 2009, so ist Chinesisch Empfängersprache von kaum 5 Prozent sämtlicher in allen Richtungen zwischen diesen Sprachen angefertigten Übersetzungen – ein Volumen, etwa so groß wie das des Schwedischen, das jedoch von weniger als 1 Prozent der Chinesischsprecher gesprochen wird. In der Gegenrichtung bietet sich sogar ein noch schlechteres Bild. Nur 863 Bücher wurden aus dem Chinesischen ins Hindi, ins Arabische, Englische, Französische, Deutsche und Schwedische zusammen übersetzt, wohingegen die Anzahl der auf Chinesisch, Arabisch, Hindi, Englisch, Französisch und Deutsch zusammen publizierten schwedischen Bücher mehr als doppelt so groß ist.
Fast 80 Prozent aller in einem Zeitraum von zehn Jahren zwischen allen diesen sieben Sprachen angefertigten Übersetzungen – 104000 von insgesamt 132000 – sind solche aus dem Englischen. Demgegenüber sind nur wenig mehr als 8 Prozent aller in dieser Gruppe angefallenen Übersetzungen solche ins Englische. Französisch und Deutsch sind die Empfänger von 78 Prozent aller Übersetzungen aus dieser Gruppe.
Die Asymmetrie ist erstaunlich und in mancher Hinsicht ziemlich beunruhigend. Gewiss, publizierte Bücher sind nicht der einzige Kanal, auf dem interkulturelle Kommunikation stattfindet, die von der UNESCO gesammelten Daten mögen außerdem nicht vollständig sein und die Suchmaschine mag ihre Macken haben. Das Gesamtbild jedoch – und es wird durch das bestätigt, was jeder Reisende in jeder beliebigen Airport-Buchhandlung auf der ganzen Welt sehen kann – dürfte im Großen und Ganzen stimmen. Übersetzungen aus dem Englischen findet man an jeder Ecke, Übersetzungen ins Englische sind dünn gesät.
Es ist weder sachlich gerechtfertigt noch sonderlich originell, die Schieflage der übersetzerischen und der übersetzten Welt allein dem allmächtigen Dollar anzulasten. 2 Die festgestellten Übersetzungsströme ergeben auch kein sonderlich überzeugendes Abbild der militärischen Machtverhältnisse in unserem Jahrhundert oder in der jüngeren Geschichte. Anfangs war die Verbreitung des britischen Englisch um die ganze Welt sicher eine Begleiterscheinung der kolonialen Expansion – die ungeheure Ausweitung und das zunehmende Tempo seiner
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