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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Täuschung. Dichter waren in den meisten nichtrussischen Sprachen nicht leicht aufzutreiben, und noch schwieriger war es, russische Dichter zu finden, die sie übersetzen konnten. Die sowjetische Lösung war, sie zu erfinden. Dschambul Dschabajew ist das berühmteste Beispiel für sowjetische Schein-Übersetzungen, teils deshalb, weil der Betrug sich so lange hinzog. Dschabajew, zur Zeit der Revolution ein bekannter Interpret von Volksliedern, war gezwungen, seinen Namen für patriotische Gedichte herzugeben, die man in Russland von einer ganzen Fabrik von Mietschreibern herstellen ließ und als Übersetzungen aus dem Kasachischen ausgab. Dschabajew wurde in viele andere Sprachen übersetzt – in Wahrheit aus dem Russischen, offiziell aber aus dem Kasachischen. Der »Nationaldichter Kasachstans« wurde 99 Jahre alt, und so konnte die Moskauer Liederschmiede die Illusion viele Jahrzehnte lang aufrechterhalten. 3
    Die Sprache der Eroberer fungiert jedoch nicht in allen Imperien als Sprache der Eroberung. Vielfach entstand eine Übersetzungskultur, die der Sprache der Eroberten Prestige und Autorität verlieh. Als die Akkader um 2250 v. u. Z. Sumer überrannten, wischten sie die viel ältere Kultur und Sprache ihrer neuen Untertanen nicht einfach vom Tisch. Sie übernahmen die sumerische Schrift – die keilförmigen Lettern, die entstanden, wenn man feuchten Ton mit der geschärften Spitze von Schilfrohr ritzte – und betrachteten das (sprachlich mit ihnen nicht verwandte) Sumerische als kulturelle Bereicherung. Gesetze und Legenden, Regeln und Chroniken wurden aus dem Sumerischen ins Akkadische übersetzt, und an der Beherrschung des Sumerischen erkannte man in den vielen Jahrhunderten der akkadischen und assyrischen Zivilisation den Gebildeten. Obwohl es immer weniger als Ausweis von politischem, militärischem oder wirtschaftlichem Einfluss angesehen wurde und zunehmend auch seine Bindung an eindeutig identifizierbare Ethnien verlor, war das Sumerische bis zum 1. Jahrhundert u. Z. in Mesopotamien weiter als heilige, zeremonielle, literarische und wissenschaftliche Sprache in Gebrauch – es hatte als Quelle für abwärts -Übersetzungen mithin eine Lebensdauer von fast 3000 Jahren. Um damit gleichzuziehen, wird das Englische noch eine ganze Weile brauchen.
    Zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert v. u. Z. verbreiteten griechische Seefahrer ihre Sprache an nahen und fernen Küsten von Marseille bis Odessa, und Alexander der Große trug sie über Land bis nach Ägypten und nach Afghanistan. Dass das Griechische zur Quellsprache für das Übersetzen wurde, hat aber nichts mit der mazedonischen Militärmacht zu tun. Rom hatte es schon danach gelüstet, sich die griechische Kultur anzueignen, bevor es die griechische Halbinsel zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. u. Z. tatsächlich eroberte und besetzte. Die Sprache der Eroberten, so erkannte man bald, war eine Schatzkammer der Kultur und des Geistes. Griechisch zu lernen wurde im antiken Rom zum Hauptinhalt wahrer Bildung, und eine hohe Stellung wurde vor allem bei dem vermutet, der ins Lateinische übersetzen konnte.
    In Anbetracht der Geschichte des Sumerischen und des Griechischen sollten wir ökonomischen, militärischen und politischen Erklärungen für den heutigen Weltatlas des Übersetzens mit gehöriger Skepsis begegnen. In gewissem Sinne sind die aus der Antike bekannten Beispiele dafür, dass Übersetzungen das Ansehen der Sprachen unterworfener Völker steigerten, natürlich ungewöhnlich, scheint es im Mittelalter oder in der Moderne doch keine guten Beispiele dafür zu geben. Als die Normannen England eroberten, übernahmen sie das Angelsächsische nicht als ihre Kultursprache – sie verwendeten weiter Französisch und ließen das einfache Volk einen franko-sächsischen Mischmasch sprechen, aus dem schließlich das Englische wurde. Als die Franzosen während der Napoleonischen Kriege den Thron Schwedens übernahmen, begannen sie nicht aus dem Schwedischen zu übersetzen. Die neue schwedische Königsfamilie und ihr Hof sprachen noch über hundert Jahre weiter Französisch – und ihre Nachkommen unterhalten bis heute einen Palast in Nizza.
    Aber wir könnten leicht auch den entgegengesetzten Standpunkt einnehmen. Vielleicht ist die Geschichte des Übersetzens, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten im europäischen Raum insgesamt darbietet, eine Abweichung von einer schon länger bestehenden Norm. Und sogar in Europa gibt es Beispiele dafür, dass

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