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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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mit denen nun über Dinge gesprochen werden kann, für die jeder Augenscheinbeweis fehlt. In mancher Hinsicht ist eine einzigartige und unersetzliche geistige Welt dadurch beschädigt worden. Ebenso gut könnten wir sagen, dass der massenhafte Import von Promiklatsch englischen Ursprungs in die französischen und deutschen Medien stilistische Gräuel hervorgebracht hat, die die Sprache selbst entwerten. Zu anderen Zeiten und in anderen Regionen wurden viel größere lexikalische und stilistische Veränderungen derselben Art nicht beklagt, sondern im Gegenteil begrüßt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert etwa übernahmen japanische Übersetzer eine Fülle von wissenschaftlichen Begriffen aus europäischen Sprachen, die die meisten Verwender der neuen Wörter für eine Bereicherung ihrer Sprache hielten. Zwischen dem 4. und dem 8. Jahrhundert, so heißt es, erlebte das Syrische (eine eng mit dem Aramäischen verwandte semitische Sprache) eine Blütezeit unter Severus Sebokht, einem Bischof, Gelehrten und Übersetzer, der Unmengen von griechischen Wörtern und Wendungen mitsamt dem mathematischen, medizinischen und astronomischen Wissen der antiken Griechen einführte, ein Wissen, das der latinisierte Westen außer Acht gelassen hatte (und erst Jahrhunderte später wiederentdecken sollte, als arabische Übersetzungen ebendieser ins Syrische übersetzten griechischen Wissenschaft Mitte des 12. Jahrhunderts im spanischen Toledo von Gerhard von Cremona abermals in Lateinische übersetzt wurden und sich von da an durch ganz Europa verbreiteten). 6
    Die christlichen Fundamentalisten, die das Volk der Bosavi bekehrten, glauben vielleicht tatsächlich, sie hätten die Sprache der von ihnen geretteten Seelen bereichert; und es wird wohl auch in Syrien vor so vielen Jahren Pessimisten gegeben haben, die ihre alte Sprache durch die massenhafte Einfuhr griechischer Wörter für zerstört hielten. Tatsache aber ist, dass Standpunkte zu einem durch Übersetzen in Gang gebrachten oder beschleunigten Sprachwandel nicht ausschließlich von Empfindungen in Bezug auf Sprache oder auf das Übersetzen abhängen. Sie rühren von Vorstellungen her, die tiefer verwurzelt und weniger leicht beeinflussbar sind.
    Die erste betrifft die Stellung, die der eigenen Sprache je nach persönlicher Auffassung in der Hierarchie der Übersetzungssprachen gebührt . Für viele Menschen, besonders für die in der Geisteshaltung des einsprachigen europäischen Nationalstaats befangenen, ist das ein heikles Thema. Der gefühlte Rang der eigenen Sprache kollidiert häufig mit der Wirklichkeit, was zu kollektiver Heuchelei führen und Groll erzeugen kann. Die Franzosen, die verächtlich auf den Gebrauch englischer Wörter herabsehen und sie trotzdem kübelweise importieren, befinden sich in dieser misslichen Lage. Sie sind nicht die Einzigen.
    Die Einstellung zu dem von Übersetzungen bewirkten Sprachwandel hängt zweitens entscheidend davon ab, wie man das beurteilt, was das neue Vokabular mit sich bringt. Die Auswirkungen des Übersetzens auf eine Empfängersprache lassen sich ja nicht von den Auswirkungen trennen, die das übersetzte Material selbst hat. Durch Übersetzungen kann Hollywood-Glamour in Empfängerkulturen einströmen, zu anderen Zeiten können es aber Techniken des Schiffsbaus, religiöse Erbauung oder saftige Histörchen über Marie Antoinette sein – praktisch alles, was je für aufschreibenswert gehalten wurde. Wie man die sprachlichen Folgen dieser Zuflüsse beurteilt, hängt davon ab, ob man das durch die Übersetzungen zugänglich gewordene Material für notwendig oder wünschenswert hält.
    Der Schaden, den andere Kulturen davon haben, wenn sie ausschließlich Empfänger von Übersetzungen sind, und der Nutzen, den Empfängersprachen davon haben, dass immer nur Übersetzungen aus demselben Gebiet in sie einströmen, halten sich die Waage. Der eigentliche Schaden oder Nutzen entsteht weder durch das Übersetzen als solches noch durch seine Auswirkungen auf die Empfängersprache, sondern durch die Art der Literatur, die das Übersetzen verbreitet.

19. GLOBALE STRÖME: ZENTRUM UND PERIPHERIE BEIM ÜBERSETZEN VON BÜCHERN
    Der Verlag Harvill Press wurde 1948 in London gegründet mit dem Ziel, literarische Werke von hoher Qualität aus anderen Sprachen, zunächst aus Osteuropa, zu veröffentlichen. Am 50. Jahrestag seines Bestehens verkündete man stolz, er habe englische Übersetzungen von Werken aus 43 verschiedenen Sprachen herausgebracht.

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