Was macht der Fisch in meinem Ohr
Dominanz folgten dem 1947 einsetzenden Zerfall des britischen Weltreichs nach. Die Weltmacht-Hypothese erklärt nicht, warum sich Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Niederländisch, zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert die Sprachen von ebenso weit ausgedehnten und dichtbevölkerten Reichen, im heutigen globalen Übersetzungsbaum nicht einmal in der Nähe der Spitze befinden. Jedem Werk der spanischen Literatur, das im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ins Englische übersetzt wurde, stehen 15 vom Englischen ins Spanische übersetzte Bücher gegenüber. Dabei gibt es weltweit heute fast genauso viele spanische Muttersprachler (um die 350 Millionen) wie englische (400 Millionen).
abwärts -Übersetzen findet meist aus praktischen Gründen aus der dominierenden Sprache in die Sprachen statt, die von den in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Völkern verwendet werden. In der österreichisch-ungarischen Monarchie etwa wurden Gesetze, Vorschriften, offizielle Bekanntmachungen und Tagesnachrichten aus dem Deutschen, der Sprache des Hofs und der Reichsverwaltung, in alle 17 offiziellen Amtssprachen des Vielvölkerstaats übersetzt. Bücher folgten jedoch nicht in großem Umfang nach. Es entstand keine lebendige Kultur des literarischen Übersetzens ins Slowenische oder Slowakische, Serbokroatische, Ruthenische, Tschechische und so weiter. Und zwar deshalb, weil es einen einfacheren Weg gab, ein kultivierter Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie zu werden: indem man Deutsch lernte. Ebenso können zahlreiche bedeutende englische Werke über Geschichte, Wissenschaft, Literatur und Kunst nur mit staatlicher Unterstützung ins Schwedische, Dänische, Norwegische oder Niederländische übersetzt werden, weil Interessierte aus diesen Ländern sie bereits auf Englisch lesen. Wirtschaftliche, militärische und kulturelle Machtverhältnisse haben offensichtlich Auswirkungen auf Übersetzungsströme, meist aber nicht auf direktem oder einfachem Weg. Eine Sprache, die wirklich dominiert, die eine große Armee und eine gut gefüllte Schatzkammer hinter sich hat – sagen wir Latein in der Epoche der römischen Herrschaft in Europa und am Mittelmeer –, ist die einzige, aus der man nie irgendetwas zu übersetzen braucht. Die Menschen lernen sie einfach, weil sie sonst keine Zukunftsperspektive hätten. Englisch dominiert in der Welt nicht so wie ehemals das Lateinische, denn aus ihm wird in großem Umfang in andere Sprachen übersetzt. Übersetzen und imperiale Herrschaft sind sich wechselseitig ausschließende Begriffe.
Als die Spanier, Portugiesen und Engländer zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert in die Neue Welt ausschwärmten, gaben sie keine Anstöße zu Übersetzungen in irgendeine von den Ureinwohnern der Amerikas gesprochene Sprache. Sie begründeten Kolonialreiche. Doch als Sowjetrussland in den zwanziger Jahren seine Macht über die wieder unter dem Dach eines Staats vereinten zahlreichen Völker Sibiriens, des Kaukasus und Zentralasiens festigte, geschah dies mit einer politischen Ideologie, die sich dezidiert antiimperial gab. Um ihre Macht- und Herrschaftsinteressen durchzusetzen, startete die Sowjetunion ein gewaltiges Programm zur Übersetzung aus den und in die indigenen Sprachen der einzelnen »Nationalitäten« – wie die Kasachen, Turkmenen, Georgier, Aserbaidschaner und so weiter genannt wurden. Es war zwar vieles Heuchelei an dieser sowjetischen Pose, entscheidend aber ist, dass nur das Übersetzen als offizielles Alibi für etwas dienen konnte, was in fast jeder anderen Hinsicht ein klassischer Fall imperialer Expansion war. Klassiker der russischen Literatur wurden auf Kasachisch, Inguschisch, Darginisch und so weiter zugänglich gemacht und auf aufwärts -Übersetzungen konnte man ebenfalls nicht ganz verzichten. Es musste ein Austausch in beide Richtungen sein, wenn die Sowjetunion zeigen wollte, dass sie keine imperiale Agenda verfolgte.
Die sowjetischen Sprachplaner standen vor dem Problem, dass es lange dauert, funktionierende Übersetzungsbeziehungen zwischen zwei Sprachen aufzubauen. Man muss Schulen gründen und eine Generation zweisprachiger Menschen heranbilden, die dann ihre übersetzerischen Mittel und Konventionen entwickeln. Das lässt sich nicht über Nacht aus dem Boden stampfen, wie groß der Bedarf auch sein mag. Sowjetrussland aber war ein revolutionäres Unterfangen und hatte es mit der Errichtung der neuen Welt sehr eilig. Deshalb verlegte es sich auf
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