Was macht der Fisch in meinem Ohr
und Rechtssachverständigen ist viel mehr als nur Übersetzen – sie ist aktive Gestaltung des Rechts als Sprache und der Sprache als Recht. 2
Viele vor den EuGH gebrachte Fälle entstehen durch widersprüchliche Auslegungen europarechtlicher Bestimmungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten – de facto aus Konflikten zwischen differierenden Auslegungen verschiedener Sprachversionen eines vermeintlich gleichen Texts. Wenn, was ja gilt, alle Sprachversionen Gesetzeskraft haben, wie verkündet das Gericht dann das salomonische Urteil, dass diese Version jener Version vorzuziehen sei?
Da alle Versionen eines Gesetzes Urschriften sind, kann es keine als Übersetzung bezeichnen, und da die Arbeitssprache des EuGH Französisch ist, gibt es seine Texte oder Darlegungen fast immer in drei Sprachen. In seltenen Fällen hat er sich einmal zur Verwendung des Tabuworts »Übersetzungsfehler« hinreißen lassen – etwa als in der deutschen Fassung einer Bestimmung über den Import von Sauerkirschen stattdessen von Süßkirschen die Rede war. 3 So ein einfaches Urteil ist untypisch für die Tätigkeit des Gerichts. Viel häufiger muss es darüber befinden, welchen Sinn und Zweck ein bestimmtes Gesetz hat, und zwar zusätzlich zu seiner sprachlichen Ausgestaltung. Im Geltungsbereich einsprachigen nationalen Rechts liefert der Wortlaut des Gesetzes den besten Hinweis auf den mit seinem Erlass beabsichtigten Zweck, und seit jeher haben juristische Auseinandersetzungen die Bedeutung von Wörtern zum Gegenstand. Im Europarecht aber genügt das nicht. Fragen der rechtlichen Auslegung sind beim Berufungsgericht der EU immer auch Fragen über 23 unterschiedliche Sprachen.
Angenommen, bei einem ganz praktischen, von den Verfassern einer EU-Richtlinie nicht vorhergesehenen Sachverhalt gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen der Bedeutung des französischen und des deutschen Texts, und das wiederum zieht eine Beschwerde Frankreichs nach sich, Deutschland wende EU-Recht nicht korrekt an. Der EuGH muss darüber entscheiden, ob Frankreich recht hat oder nicht. Da es aber keinen Originaltext gibt (auf Latein beispielsweise), der als höherwertiger Beleg oder Maßstab für ein Urteil herangezogen werden könnte, hat das Gericht nur zwei Möglichkeiten, sich seine Auffassung zu bilden. Es kann unter Hinzuziehung des Sprachendiensts alle Fassungen auflisten, die die französische Auslegung unterstützen, und ihnen die Fassungen gegenüberstellen, deren Kontext eher die deutsche Auslegung stützt – und die größere Gruppe, welche es auch sein mag, schließlich zum Sieger erklären. Der EuGH muss sich in seinem Spruchverhalten aber nicht nach der »Mehrheit« richten. Er kann ebenso gut eine Sprachfassung benennen, die den mit der Direktive verfolgten Zweck klarer oder genauer ausdrückt als alle anderen.
Beide Verfahren gehen auf eine Methode zurück, mit der schon die Kirchenväter das »Wort Gottes« durch den Vergleich unterschiedlicher Bibelfassungen (im Wesentlichen der griechischen und lateinischen) ermittelten. Mit der »augustinischen Methode« der Auslegung des europäischen Rechts, wie sie genannt wird, soll rechtswirksam eine Bedeutung ermittelt werden, die alle einzelnen Sprachversionen einer Vorschrift übersteigt und sie zugleich mit Leben erfüllt. Es liegt nahe, dass das zu einigen Problemen führt.
In dem Verfahren Peterson vs. Weddel & Co. Ltd ging es um einen Verstoß gegen eine Richtlinie über den Einsatz von Lastkraftwagen, der in Großbritannien strafrechtlich verfolgt worden war. Laut einer EU-Verordnung dürfen Mitgliedsstaaten von der allgemeinen Vorschrift für den »Transport von Tierkörpern oder von Abfällen, die nicht zum menschlichen Verzehr bestimmt sind« abweichen. Die in Großbritannien mit einem Bußgeld belegte Firma hatte Tierkörper an Fleischereibetriebe geliefert, die zweifellos die Absicht hatten, sie für den menschlichen Verzehr zu verkaufen. Die Anwälte des Logistikunternehmens beriefen sich darauf, von der EU-Bestimmung ausgenommen zu sein, und legten Berufung gegen den Entscheid eines britischen Gerichts ein, das ihnen diese Geschäftstätigkeit nicht durchgehen lassen wollte. Die Anwälte trugen vor, Abfälle, die nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt seien, und Tierkörper generell (ob für den menschlichen Verzehr bestimmt oder nicht) seien von der Geltung der EU-Richtlinie ausgenommen, wohingegen das britische Gericht die Auffassung vertreten hatte, die Ausnahme gelte nur
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