Was macht der Fisch in meinem Ohr
Staaten, in denen 23 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Aber ob es nun vier oder 23 Sprachen sind, das revolutionäre Novum dieser Grundregel, die schon bei Annahme nur unzureichend verstanden und noch heute weithin nicht zur Kenntnis genommen wurde, besteht darin, dass es unter den gewaltigen Mengen von Papier, die der EU-Apparat fabriziert, keine Übersetzungen gibt. Alles Gedruckte erscheint bereits im Original.
In allen Sprachversionen haben die von der Europäischen Kommission oder einer ihrer Institutionen ausgehenden Gesetze, Verordnungen, Richtlinien oder Schriftstücke dieselbe Gültigkeit und Rechtskraft. Nichts ist eine Übersetzung – aber alles ist übersetzt. Das ist die historisch einmalige Sprachenregel, unter der eine stetig wachsende Zahl von Menschen nun seit über 50 Jahren lebt und arbeitet.
Wer geglaubt hat, das hätte die gängigen Ansichten über das Übersetzen verändert, muss sich eines Besseren belehren lassen. Da es in der Literaturwissenschaft und der Sprachlehre nach alter Tradition theoretisch unmöglich ist, dass ein Text mehr als ein Original hat, wird die Sprachenrealität der EU tendenziell eher ausgeblendet oder als gigantische Geldverschwendung geschmäht, oder aber es wird düster vor ihren Risiken gewarnt. Dass ein Übersetzer eine gutbezahlte Stelle in Brüssel oder Luxemburg aus sprachtheoretischen Gründen ausgeschlagen hätte, ist mir bisher aber noch nicht zu Ohren gekommen.
Die Sprachenregel der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde offensichtlich nicht von Philosophen, Linguisten oder Übersetzern, geschweige denn von Theoretikern ersonnen. Sie entstand aus dem Bedürfnis, allen an diesem gewagten neuen Unternehmen Beteiligten zu vermitteln, dass sie in gleicher Weise geachtet werden und die gleichen Rechte haben – und damit das abzuschaffen, was ich als aufwärts - und abwärts -Übersetzen bezeichnet habe. Sie wurde von Politikern aus eminent politischen Gründen erfunden. Und diese Politiker und mehrere Generationen ihrer Nachfolger waren bereit, erhebliche Geldmengen dafür aufzuwenden, dass die Norm der Sprachenparität praktische Realität wird. Die Generaldirektion Übersetzung (der interne Sprachendienst der Europäischen Kommission) beschäftigt derzeit 1750 Linguisten und 600 Angestellte und gibt riesige Summen dafür aus, Millionen von Seiten Verwaltungs- und Rechtsprosa pro Jahr herzustellen – wahrscheinlich mehr Geld, als eine Gesellschaft bisher je für Übersetzungen aufgewendet hat. 1
In den sechziger Jahren kam die Mode auf, mit Michel Foucault, der als Entdecker dieses Zusammenhangs gilt, zu meinen, Sprache sei Macht und alle Macht beruhe auf Sprache. Die Sprachengeschichte der EU widerlegt das – genauso wie Orwells polemische Erfindung des »Neusprechs« in 1984 – zwar nicht ganz, sondern zeigt, dass letzten Endes Macht Macht ist. Die Sprache kann dem politischen Willen genauso unterworfen werden wie alles andere menschliche Handeln.
Die Norm der Sprachenparität wirft viele interessante Fragen auf. Sie besagt, dass kein offizieller EU-Text bemängelt oder abgelehnt oder auch nur in Zweifel gezogen werden kann mit der Begründung, er sei nicht richtig aus dem Original übersetzt worden, denn jede Sprachversion ist ein Original. Einem in 23 verschiedenen Fassungen vorliegenden Original kommt man mit den traditionellen Debatten der Übersetzungskritik nicht mehr bei. Man könnte das eine politische Fiktion nennen. Sie ist aber keine Theorie. Sie existiert.
Dass die verschiedenen Sprachen, in denen ein Text abgefasst ist, gleich gültig sein können, ist genau genommen nichts Neues. Bei der Inschrift auf dem Rosettastein handelt es sich um ein Dekret, 196 v. u. Z. in juristischer Sprache verfasst, das eine Steueramnestie für ägyptische Tempelpriester mit Lobesreden würdigt. Es wurde auf einen Basaltstein in der Koine, in Demotisch und in Hieroglyphen eingemeißelt, weil es für drei unterschiedliche Gruppen unter den potenziellen Adressaten gleichermaßen gelten sollte. Der Rosettastein, gemeinhin als Schlüssel zur Entzifferung der ägyptischen Schrift gewürdigt, sollte auch dahingehend verstanden werden, dass die Gründer der EU nichts Unmögliches anstrebten, als sie die Sprachenparität einführten.
Die überlieferte Geschichte der beiden Hauptsprachen der ursprünglichen EU begann ebenfalls mit einem zweisprachigen Edikt. In den 842 geschworenen Straßburger Eiden verbündeten
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