Was macht der Fisch in meinem Ohr
sich zwei Enkel Karls des Großen gegen ihren Bruder, den sie verdächtigten, sie um ihr angestammtes Erbe bringen zu wollen. Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche sprachen verschiedene Sprachen – der eine die »teudisca lingua«, eine frühe Form des Deutschen, der andere die »romana lingua«, eine frühe Form des Französischen. Beide leisteten die Eidesformel in der Sprache ihres jeweiligen Verbündeten. Das geschah nicht aus feudaler Höflichkeit. Der Eid wurde schriftlich festgehalten, damit er vervielfältigt, mitgeführt und vor den Heeren Karls und Ludwigs verlesen werden konnte. Ludwig brauchte seinen Leuten nicht zu sagen, dass sie nicht gegen Karl kämpfen sollten, und Karl brauchte seinen Leuten nicht zu sagen, dass sie nicht gegen Ludwigs Männer kämpfen sollten. Jeder musste jedoch der anderen Seite versichern, dass er kein Feind mehr war, sondern ein Verbündeter im Kampf gegen Lothar. Deswegen fertigten sie eine zweisprachige Urkunde an, deren Text parallel nebeneinander in den beiden Sprachen niedergeschrieben wurde, aber nicht weil beide wörtlich genau dasselbe aussagen, sondern weil sie dieselbe Gültigkeit haben sollten, wenn sie Haufen leseunkundiger Soldaten vorgetragen wurden. Die Straßburger Eide, das Gründungsdokument zweier Sprachen und auch der Grundstein für die spätere geografische Gestalt der europäischen Staaten, sind zugleich das Gründungsdokument für die Sprachennorm der Europäischen Union.
Einen Haken hat die Sache aber. Es ist unwahrscheinlich, dass die Unterzeichner der Eide die Formel tatsächlich in einer der niedergeschriebenen Sprachen gesprochen haben. Sie dürften für ihre direkten Verhandlungen über die Vertragsbedingungen Latein benutzt und es anschließend ihren Schreibern überlassen haben, wie sie die Vereinbarung in den (bis dahin nicht aufgezeichneten) Sprachen ihrer Truppen schriftlich niederlegen. Obwohl es also keine explizite Urschrift der Straßburger Eide gibt, gab es höchstwahrscheinlich eine implizite Textvorlage, die das Ergebnis von Verhandlungen war, auf Latein geführt und vermutlich von Schreibern oder gebildeten Sklaven jeweils ins Althochdeutsche und Altfranzösische übersetzt.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch die EU über eine Umgangssprache verfügt, die in den Korridoren des Berlaymont-Gebäudes, in den Cafeterias und in privaten Besprechungszimmern verwendet wird – Englisch. Es trifft aber nicht zu, dass EU-Texte zuerst auf Englisch verfasst und anschließend übersetzt werden. Die Abläufe sind wesentlich interessanter. Eine Arbeitsgruppe oder ein Unterausschuss erarbeitet bei einem Treffen einen Gesetzesentwurf. Das geschieht in einer der drei internen Arbeitssprachen der EU – Deutsch, Französisch, Englisch –, wobei immer auch anderssprachige Verfasser anwesend sind. Über den ersten Entwurf wird dann nicht nur inhaltlich beraten, sondern auch in Hinblick darauf, wie der betreffende Sachverhalt in den anderen Arbeitssprachen ausgedrückt werden kann. Anschließend wird der Entwurf übersetzt. In einer erneuten Zusammenkunft seiner Verfasser werden Probleme und Unstimmigkeiten der unterschiedlichen Sprachfassungen bereinigt. Verfasst werden Entwürfe ausnahmslos von Sprachsachverständigen und von Angestellten, die an der Entwicklung der rechtsgültigen Textgestalt von EU-Verordnungen mitwirken. Im abgleichenden Hin und Her zwischen Ausschüssen und Entwurfsabteilungen entsteht schließlich ein Text, der in allen Sprachfassungen von allen für gleich gültig anerkannt wird. In diesem Sinne ist die »sprachliche Fiktion« der EU-Norm der Sprachenparität keineswegs fiktiv.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, der Rechtsfragen klärt, die von den nationalen Appellationsgerichten der Mitgliedsstaaten der EU nicht beantwortet werden können, wird etwas anders geführt. Intern verwendet er als Umgangssprache ausschließlich Französisch. Sämtliche Dokumente, mit denen das Gericht befasst ist, sind entweder bereits auf Französisch oder werden von Angehörigen des Übersetzerheers ins Französische übersetzt. Klagende Parteien – ob Mitgliedsstaaten, europäische Institutionen oder Behörden aus dem Bereich einer nationalen Gerichtsbarkeit – können ihren Fall in der von ihnen gewünschten Sprache vortragen; normalerweise geschieht das in der Sprache des betreffenden Staats. Diese Landessprache wird vor Gericht dann zur Verfahrenssprache, und alle für den Fall relevanten Dokumente müssen, aus welchem
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