Was macht der Fisch in meinem Ohr
natürliche Sprachen seien deshalb so besonders, weil ihre Grundstrukturen es erlauben, eine unendliche Zahl verschiedener Sätze aus einer endlichen Anzahl von Wörtern und Regeln zu generieren. Kluge Köpfe merkten dazu an, das sei dann ja nicht anders als bei einer britischen Automobilfabrik: Die könne auch unendlich viele Fahrzeuge produzieren, von denen jedes einzelne eine andere Macke hat – ein Einwand, der außerhalb von Oxford aber nicht viel Gehör fand. Das Verfahren von GT beruht auf der Grundannahme, dass nicht jeder Satz anders ist, sondern dass alles Eingegebene wahrscheinlich schon einmal geäußert wurde. In der Theorie mag eine Sprache sein, was sie will, praktisch wird sie am häufigsten dazu verwendet, die gleichen Dinge immer wieder zu sagen. Und das mit gutem Grund. In dem großen Kellergeschoss, dem Fundament alles menschlichen Tuns, auch des sprachlichen Handelns, finden wir nichts, was so abstrakt wäre wie die »reine Bedeutung«, dafür aber gemeinsame menschliche Bedürfnisse und Wünsche. Alle Sprachen dienen diesen gleichen Bedürfnissen und dienen ihnen gleich gut. Wenn wir immer wieder dasselbe sagen, dann deshalb, weil wir auf Schritt und Tritt dieselben Bedürfnisse verspüren, dieselben Ängste und Wünsche haben und dasselbe fühlen. Die Fähigkeiten der Übersetzer und die Grundkonstruktion von GT spiegeln auf je eigene Weise unser gemeinsames Menschsein wider.
Im September 2009 veröffentlichte die neue Administration im Weißen Haus einen Leitplan für eine neue Wissenschaftspolitik mit dem Titel Strategie für amerikanische Innovationen . Dieses Dokument ruft unter anderem dazu auf, Wissenschaft und Technik zur Bewältigung der »großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts« zu nutzen, und führt gleich selbst ein halbes Dutzend Beispiele an, Solarzellen etwa, so preiswert wie Farbe, oder eine intelligente Prothetik. Zuletzt nennt das Dokument als langfristiges Ziel staatlicher Wissenschaftspolitik die Entwicklung einer »automatischen, hochgenauen und in Echtzeit verfügbaren Übersetzung zwischen den Hauptsprachen der Welt – was die Hürden für den internationalen Handel und die Zusammenarbeit erheblich senken würde«. 6 Nicht alle Ziele der Wissenschaftspolitik sind erreicht, aber mit ernsthafter Unterstützung durch die US-Regierung, die es seit 1960 jetzt erstmalig gibt, dürfte die automatische Übersetzung Fortschritte machen bis weit über das derzeit Bekannte hinaus.
24. EIN FISCH IN DEINEM OHR: DIE KURZE GESCHICHTE DES SIMULTANDOLMETSCHENS
Das Sprechen geht dem Schreiben um Äonen voraus, und das mündliche Übersetzen ist viel, viel älter als das schriftliche. Da Gesprochenes so flüchtig ist – wie ein warmer Lufthauch, und mehr ist es materiell gesehen auch nicht –, kann man über den längsten Teil der Geschichte des mündlichen Übersetzens auf direktem Weg nichts in Erfahrung bringen. Im 20. Jahrhundert aber kam es zu einer gewaltigen Veränderung, ausgelöst durch zweierlei: die Erfindung des Telefons durch Alexander Graham Bell im Jahre 1876 und eine politische Notwendigkeit von höchster Dringlichkeit.
Der 1945/46 gegen die Hauptkriegsverbrecher geführte Nürnberger Prozess war eines der wichtigsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Moderne und darüber hinaus ein beispielloses Ereignis in der Geschichte des Übersetzens. Das Gremium der Richter und der Ankläger bestand aus Vertretern der vier alliierten Siegermächte – der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion –, die drei verschiedene Sprachen sprachen; die Beschuldigten sprachen eine vierte: Deutsch. Etwas Vergleichbares hatte es noch nie gegeben. Bei Verfahren, die nationaler Gerichtsbarkeit unterliegen, übersetzen Dolmetscher konsekutiv, wiederholen in der Sprache des Gerichts, was der ausländische Beschuldigte gerade gesagt hat, und wiederholen anschließend die vom Gericht gesprochenen Worte für den Beschuldigten (wird der Klient nicht direkt angesprochen, kann dies auch leise geschehen, in Form von »Flüsterdolmetschen« oder Chuchotage ). Das Hin-und-Her-Übersetzen in dieser üblichen Form verlangsamt natürlich den Prozessverlauf. Und hier: viermaliges Übersetzen? In zwölf Richtungen? Konsekutives Dolmetschen hätte den Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof so verzögert, dass alle Beteiligten womöglich den Faden verloren hätten. Für den Nürnberger Prozess musste etwas Neues her.
Eine Technik, mit der sich der
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