Was macht der Fisch in meinem Ohr
mehrsprachige Austausch beschleunigen ließ, existierte bereits. Das Filene-Finlay-System, eine Simultandolmetschanlage, war in den zwanziger Jahren auf einem Kongress der Internationalen Arbeiterorganisation in Genf mehrmals zum Einsatz gekommen. Es handelte sich hierbei de facto um eine tragbare Telefonanlage. Die Nutzer des Systems hatten jeder ein Telefon vor sich, dessen Hörer sie abheben konnten, wenn sie eine Ansprache nicht verstanden: Sie wählten die Vermittlung und hörten die Rede in einer anderen Sprache (seinerzeit standen nur zwei zur Verfügung – Französisch und Englisch). Die Dolmetscher saßen im hinteren Teil des Konferenzraums, verfolgten die Reden und sprachen ihre Übersetzung in einen auf die Sprechmuschel aufgesteckten schallgeschützten Aufsatz, ein sogenanntes Hushaphone , das direkt mit der Telefonvermittlung verbunden war. Diese erste Simultandolmetschanlage wurde 1934 für eine Liveübertragung der von Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg gehaltenen Rede im französischen Rundfunk benutzt. 1
Gebaut und bestimmt gewesen war diese Dolmetschanlage ursprünglich aber nicht für das schnelle Hin und Her zwischen verschiedenen Sprachen, sondern für die simultane Übersetzung von vorbereiteten Reden, die vom Blatt abgelesen werden und den Dolmetschern in Schriftform vorliegen – das Genre von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens auf der ganzen Welt. Die Firma IBM, die das Filene-Finlay-System in den dreißiger Jahren erworben hatte, stellte dem Nürnberger Militärtribunal eine komplette Anlage aus zum Teil zwar bereits gebrauchten, aber wesentlich verbesserten Geräten kostenlos zur Verfügung. Dieser Akt der Großzügigkeit sollte als epochales Ereignis in die Geschichte der internationalen Kommunikation eingehen.
Mit Kopfhörern und Mikrofonen ausgestattet, waren die Richter, Ankläger, Verteidiger und die Hauptangeklagten von ihren jeweiligen Plätzen über offen im Gerichtssaal verlegte Kabel mit der Vermittlung verbunden. Weitere Kabel führten von der Vermittlung zu den vier Übersetzerteams, die sich je eine Kabine teilten. Schon dieses Kabelgewirr war nicht ohne, das eigentlich Erstaunliche aber war das, was in den Kabinen der Dolmetscher geschah.
Die am Prozess Beteiligten konnten über einen Drehknopf an ihren Kopfhörern auswählen, welchen Sprachkanal sie hören wollten. Die Sprachausgabe wurde von vier Teams – für jede Arbeitssprache des Gerichts eines – zu je drei Dolmetschern geleistet. Das englische Team etwa bestand aus je einem Dolmetscher für Deutsch, Russisch und Französisch, die nebeneinander saßen, über Kopfhörer zuhörten und das in den anderen Sprachen Gesprochene auf Englisch wiederholten; in den anderen Kabinen galt das Gleiche mit anderer Sprachenverteilung. Aus den 300 Sprachkundigen, die das Gericht und die Stäbe der Anklagevertreter und der Verteidigung für den Sprachendienst eingestellt hatten, wurden insgesamt 36 Dolmetscher ausgewählt, die mit dieser Form der unmittelbaren mündlichen Übersetzung Neuland betraten. Die dolmetschenden Zwölferteams arbeiteten in Schichten von jeweils 85 Minuten an jeweils zwei von drei Tagen; der dritte Tag war zur Erholung vorgesehen. Schon in den Anfängen des neuen Berufs erkannte man, dass Simultandolmetschen zu den anstrengendsten Dingen gehört, die man mit einem Gehirn anstellen kann.
Schwierig an dieser Form der Sprachvermittlung ist nicht nur ihr hohes Tempo, sondern der Umstand, dass das Geräusch der eigenen Stimme die Fähigkeit herabsetzt zu hören, was die andere Person sagt. Deswegen wechseln wir uns bei Gesprächen ja ab und fallen dem anderen nur ins Wort, wenn wir eigentlich nicht hören wollen, was er zu sagen hat. Ein Simultandolmetscher muss lernen, ein eigentlich natürliches Verhalten bei Bedarf abzulegen: dass man beim Sprechen nicht zuhört und beim Zuhören nicht spricht. Das Simultandolmetschen gibt es überhaupt nur deshalb, weil besonders versierte Menschen sich etwas beibringen können, was eigentlich gegen die Natur ist. Probieren Sie es einmal aus: Schalten Sie eine Nachrichtensendung im Fernsehen ein und wiederholen Sie in Ihrer normalen Sprechlautstärke genau das, was der Nachrichtensprecher sagt. Wenn Sie das 10 Minuten lang durchhalten, ohne dass Ihnen ein Satz durch die Lappen geht, sind Sie möglicherweise auch für den Beruf des Simultandolmetschers geeignet – vorausgesetzt, Sie können zwei weitere Sprachen
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