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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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außergewöhnlich gut. Es gibt Millionen von Menschen, die drei Sprachen gut genug beherrschen, um Dolmetscher zu sein, doch nur einem kleinen Teil gelingt das Kunststück, die eigene Aufmerksamkeit zwischen dem, was man selbst spricht, und dem, was man hört, aufzuteilen – ohne ein Wort zu verpassen.
    Das Schwierigste bei der Hochgeschwindigkeits-Sprachvermittlung aber ist, dass Politiker und Diplomaten in der Regel nicht in kurzen, einfachen, unverschachtelten Sätzen sprechen und auch keine Pausen machen. Meist winden sie Sprachgirlanden, bei denen eine ausweichende Floskel auf die andere folgt. »Ich bin von meinem Botschafter ermächtigt, dem hohen Hause mitzuteilen, dass entgegen dem in einem Organ der kapitalistischen Presse verbreiteten Gerücht kein Bevollmächtigter des Staats wissentlich in irgendein Land Material exportiert hat, das von der internationalen Konvention zur Ächtung von …« Leider gibt es keine Konvention zur Ächtung von Weitschweifigkeit, und so müssen Dolmetscher mit der Neuformulierung solcher Sätze schon beginnen, wenn sie noch nicht wissen, wie sie weitergehen, worauf sie hinauslaufen oder in welcher Weise das Satzende auf den Anfang zurückwirkt. Es bedarf außerordentlich hoch entwickelter geistiger Fähigkeiten, Elemente einer Bedeutung in vorläufiger Formulierung auf »Stand-by« zu halten, bis der Satz wie die sprichwörtliche Katze endlich aus dem Sack ist. Ein Dolmetscher, der bereits Begonnenes reparieren muss (wie wir es im alltäglichen Sprechen tun), verliert wertvolle Zeit. Die Fähigkeit, die richtige Wendung blitzschnell parat zu haben, und den Satz dabei so offen zu halten, dass alles, was noch folgen mag, ohne Sinnwiderspruch hineinpasst, erwirbt man durch Erfahrung und durch Übung – zusammen mit der Fähigkeit, zwischen grammatisch und stilistisch stark differierenden Sprachen augenblicklich die Entsprechungen für bestimmte Satzstrukturen zu finden.
    Die Mehrzahl derer, die an der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher beteiligt waren, zweifelte an der Effizienz dieser neumodischen Technik. Dass die moderne Welt des Konferenzdolmetschens ist, wie sie heute ist, verdanken wir mehr der zupackenden Haltung der siegreichen US-Armee als den Bedenkenträgern unter den Anklägern, Richtern und Sprachkundigen. Zu den Skeptikern gehörte neben Robert H. Jackson, dem amerikanischen Chefankläger, auch Richard Sonnenfeldt, der Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage. Von General »Wild Bill« Donovan, dem Chef des Office of Strategic Services (OSS), persönlich aus Salzburg geholt, aus dem Hauptquartier eines Corps der Siebten US-Armee, hatte Sonnenfeldt als Dolmetscher für Englisch und Deutsch an der Vorbereitung der amerikanischen Anklage mitgewirkt und im Auftrag von Vier-Sterne-Generälen die Führungsriege der Nazis befragt. Sonnenfeldt gehörte zu denen, die glaubten, der bevorstehende Prozess stelle so gewaltige Anforderungen, dass entweder die eingesetzte Technik oder die beteiligten Dolmetscher oder beide hinter ihnen zurückbleiben würden. 2
    Was technische Pannen betraf, hatten seine Ahnungen ihn nicht getrogen. Mikrofone und Kopfhörer fielen aus, Anwälte und Zeugen (oder auch Justice Robert H. Jackson) sprachen zu schnell, und nicht nur einmal brach ein Dolmetscher während der Aussage von Rudolf Höß, dem eiskalten Lagerkommandanten von Auschwitz, in Tränen aus. Trotz dieser Störungen bewährte sich die Anlage alles in allem aber doch. Hermann Göring soll einmal zu Stefan Hörn, einem der Gerichtsdolmetscher, gesagt haben: »Ihr System ist sehr effizient, aber es wird auch mein Leben verkürzen!« 3
    Mit dem Einsatz der Dolmetschanlage beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher brach eine neue Ära in der internationalen Kommunikation an. Und mit dem, was die Dolmetscher dort vollbrachten, legten sie den Grundstock für neue übersetzerische Fertigkeiten und für das Entstehen eines neuen Berufs, der unmittelbare und weitreichende Auswirkungen auf das gesamte Weltgeschehen haben sollte. Jede neue internationale Organisation wollte nun sofort einen Speech Translator haben und glaubte, den könne man einfach so in einem Geschäft kaufen. Im Februar 1946 – die in Nürnberg eingesetzte Anlage war noch gar nicht lange in Betrieb – verfügte die erste Generalversammlung der noch jungen Vereinten Nationen in ihrer zweiten Resolution, dass »Ansprachen, die in einer der sechs Sprachen des Sicherheitsrats

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