Was man so Liebe nennt
Gebrause weiter, eine Mischung aus Meeres- und Windtosen. Schließlich stellte Tess eine einfache Frage.
»Wie kommst du zurecht ohne Emma?«
Er sah auf; mit den eingefallenen Wangen in seinem früher runden Gesicht sah er eine Sekunde nicht fit, sondern alt aus.
»Ich weiß nicht«, sagte er seufzend. »Ich weiß nicht, was man unter zurechtkommen versteht.« Er schluckte. Tess bemerkte, wie das Auf und Ab von Joes Adamsapfel durch den Gewichtsverlust deutlicher in die Augen sprang, ein stummer Wärter in seiner Kehle. »Mich allein um Jackson kümmern ist hart.«
»Wo ist er jetzt?«
»Bei meinen Eltern.« Tess erinnerte sich von Emmas Beerdigung her an Joes Eltern: ein gebeugter, schnurrbärtiger Mann, das Gesicht lappig wie ein Hodensack, an seinem Arm eine rundschultrige Frau mit einem unpassenden Blumenhut. Tess fragte sich, ob Jackson sich vielleicht vor ihnen fürchtete. »Ich meine, es ist nicht nur wegen der Zeit und Anstrengung schwer, sondern weil jeden Tag hundert Entscheidungen zu fällen sind, große, kleine. Und jetzt muß ich alles allein entscheiden — und immer hoffen, daß ich es so tue, wie sie es gern gehabt hätte.« Sein Gesicht bat im vorhinein um Entschuldigung. »Daß die Stimme, die ich in meinem Kopf höre, wenn ich irgendwas beschließe, auch wirklich ihre Stimme ist.« Tess lächelte, verzieh ihm die Sentimentalität. Er erwiderte ihr Lächeln. »Obwohl mir dabei natürlich auch deutlich wird, wieviel Zeit wir damit verbracht haben, über all die Entscheidungen zu streiten.«
Er lehnte sich zurück, kippte dabei seinen Stuhl leicht von dem dunklen Holztisch fort, so als wolle er sich Raum schaffen, jetzt wirklich in das Thema einzusteigen.
»So viele Dinge weiß man nicht«, sagte er. »Über den Tod. Darüber, was er in einem bewirkt. Zum Beispiel hatte ich immer geglaubt, daß man ihn Schritt für Schritt verwindet. Daß es am Anfang schrecklich ist, dann aber allmählich immer besser wird.« Seine Stimme hob sich am Ende des Satzes, wie bei einem Amerikaner. Charlene, dachte Tess. »Aber in Wirklichkeit durchlaufe ich verschiedene Stadien von Schmerz. Im Moment — da spüre ich einfach, daß sie nicht da ist. Wie gestern, da war ich in Barcelona und guckte mir die Sagrada Familia an, du weißt — die Gaudi-Kathedrale, die wie aus zerflossenem Wachs aussieht...«
»Ja«, sagte sie und lächelte über seine unbeirrt englische Aussprache der spanischen Worte.
»Und danach wollte ich sie einfach anrufen und mit ihr sprechen. Nicht daß ich ihr über irgendwas Bedeutendes mein Herz aus-schütten wollte, nein, ihr einfach erzählen, wie erstaunlich ich das Gebäude fand.« Er verstummte, das kleine »v« auf seiner Stirn verknüpfte seine Brauen wie bei einem Kind, das vor einer schwierigen Aufgabe sitzt. »Nach einer Weile läßt der Schock nach, aber die Windungen in meinem Hirn, die immer alles zu ihr in Beziehung setzten — die funktionieren immer noch wie früher, so daß ich bei allem zuerst nach ihr Ausschau halte.« Wieder verstummte er. »Denn egal, was ich denke, es kommt mir bedeutungslos vor, wenn ich nicht weiß, was sie davon hält.«
»Hast du schon mal daran gedacht, allmählich nach jemand anderem Ausschau zu halten? Oder...«, sie zögerte, aber dann gewann ihre Direktheit die Oberhand, »machst du dir zu viele Sorgen darüber, was sie davon halten würde?«
Er drehte den Kopf langsam hin und her, und seine Mundwinkel sanken herab, wobei einer wie ein Pfeil auf die Rasierschramme links unten an seinem Kinn wies. »Ich habe daran gedacht.«
»Gut. Obwohl...« Tess sog die Luft durch die Zähne ein, »es eine harte Nummer ist.«
»Was?«
»Mit jemandem was anzufangen, dessen Partner gestorben ist. Einmal hatte ich fast eine Affäre mit einem Witwer.«
»Ach ja?«
»Jaah. Einem fünfzigjährigen Weinkenner. Sah gut aus, jedenfalls wenn man auf markante Gesichter steht. Aber weißt du, wie die meisten Frauen — und die meisten Männer — habe ich gern einen Vorteil vor der Ex meines Partners. Ich möchte gern über sie herziehen können, wenn ich will.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber durch den Tod sind sie darüber erhaben. Meilenweit erhaben! Es ist wahrscheinlich die einzige Art, wie man seine neue Freundin zwingen kann, nett über die alte zu reden.«
Sie lächelte ihn an, hoffte, daß ihr Ton nicht zu flapsig rüberkam. Auch er lächelte, aber so, als sei es als Einleitung zu etwas Ernsthaftem gemeint.
»Jedenfalls«, begann er mit gewichtiger
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