Was man so Liebe nennt
ist sie inzwischen schon tot.«
Er schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Alle Daten, die der Neurologe hat, sind aufschlußreich. Vielleicht gibt es eine Art Autopsiebericht.«
»Also Joe — wie soll ich mich denn an einen Namen aus irgendwelchen Briefen erinnern, die ich vor zwei Monaten gelesen habe. Und die nicht mal für mich waren.«
»Versuch es.«
Sie sah ihn an: Vor der untergehende Sonne waren seine Augen ein sehr blasses Blau.
»Professor... Dwyer? Dwight? Dinkins?« Sie öffnete bedauernd die Hände. »Tut mir leid, ich weiß es nicht mehr.«
»Hör zu — wenn ich dir eine E-Mail mit der Liste aller Neurologen am Royal Brompton schicke, erkennst du ihn dann vielleicht wieder?«
Sie senkte den Blick und überlegte eine Sekunde, ob das alles vielleicht bloß ein Vorwand war — zumindest auf einer unbewußten Ebene — , um in Kontakt mit ihr zu bleiben. Schon als er sie vor ein paar Tagen anrief und seinen Besuch ankündigte, hatte sie sich gefragt, ob er womöglich aus romantischen Gründen kam. Nachdem er den ersten Schmerz über Emmas Verlust verwunden hatte, wollte er vielleicht da wieder anknüpfen, wo sie in ihrer Todesnacht aufgehört hatten.
Aber dann verwarf sie den Gedanken. »Ja, schick mir die Liste. Vielleicht erinnere ich mich«, sagte sie und angelte aus ihren weiten weißen Baumwollhosen eine Karte — nicht unähnlich der in Chris Moores Brieftasche, nur trug diese hier jetzt das Santo Domingo Wappen. Joe steckte sie in die Tasche und lächelte.
»Ich melde mich.«
»Tu das.«
Er schob sich die Sonnenbrille von der Stirn vor die Augen und legte den Sicherheitsgurt an.
»Joe...«, sagte sie, als er wieder an den Türgriff faßte: Er hielt inne und sah auf, dachte, daß ihr der Neurologenname vielleicht doch noch eingefallen war. Aber sie beugte sich hinab und küßte ihn, ganz sanft, auf die Stirn; was für eine mütterliche Geste, dachte Tess noch im selben Moment, und das ausgerechnet von mir! Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie Wärme und Dankbarkeit in Joes Gesicht.
»Paß auf dich auf«, sagte sie.
»Mach ich.« Er schloß die Tür und fuhr los. Als Tess seinem davonsausenden Wagen nachsah, den um die Hinterräder aufwirbelnden Staubwolken, machte sie sich plötzlich Sorgen. Joe war hergekommen, weil etwas in ihm gärte, und im Restaurant am Ende der Welt war sie überzeugt gewesen, sie hätte ihm geholfen, damit abzuschließen, seinen Frieden damit zu machen, wie Charlene es wohl ausdrücken würde. Aber bei ihrem Abschied eben hatte sie gespürt, daß sie ihm nur in einem geholfen hatte, nur von einer düsteren Kammer in Joes Seele die Tür zugemacht hatte — daß andere immer noch weit offen standen und in einem Sturm wie am Cap de Creus klapperten.
PROFESSOR DEWAR
P rofessor Anton Dewar war eine solche Koryphäe in der medizinischen Welt, daß er, selbst wenn er im Krankenhaus Dienst hatte, keinen weißen Kittel tragen mußte. Statt dessen war natürlich der dunkelblaue Nadelstreifenanzug obligatorisch. Joe, der Biochemiker — der Professor Dewar jetzt im Sprechzimmer seiner Privatpraxis in der Harley Street gegenüber saß — , hatte diese Kleiderordnung nie verstanden und versuchte sich gerade vorzustellen, mit welcher Kostümierung sich hoher Rang in seinem eigenen Gebiet auszeichnen könnte, was allerdings eine müßige Überlegung war, denn gleich zu welch hohen Würden Naturwissenschaftler gelangten, sie liefen immer in ihrem weißen Kittel herum. Während Professor Dewar geschäftig Büroklammern, Briefbeschwerer und Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her schob, begannen Joes Gedanken zu wandern; er malte sich aus, wie der Kittel mit jedem neuen Reputationsgewinn immer weißer wurde und schließlich beim Erhalt des Nobelpreises weißer als weiß war, von einem so blendenden Weiß, daß Persil sich den Kittel für seine Geschäftsfeiern auslieh: eine einzige grelle, schreiende Unfarbigkeit, das Gegenstück zur Mantelfarbe des biblischen Joseph.
»Nochmals, tut mir leid, daß Sie den ganzen Weg vom Brompton herkommen mußten«, sagte Professor Dewar mit einem Lächeln, nachdem er auf seinem Schreibtisch Ordnung geschafft hatte, in der nicht mehr System als vorher war. Professor Dewar gehörte zu den Leuten, die die ganze Zeit lächeln. Kein breites Grinsen, eher eine Art Wir-verstehen-uns-schon-Mundverziehen; bei jeder Äußerung schwebten seine Lippen im Hintergrund in Halbmondform, wie als ständige Einladung an sein Gegenüber,
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